Dienstag, 7. Oktober 2025

Rezension: Was du siehst von Laura Maaß

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Was du siehst
Autorin: Laura Maaß
Erscheinungsdatum: 28.08.2025
Verlag: Gutkind (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN: 9783989411067

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Juliane, genannt Jule, und Andreas, den alle nur Andi nennen, kennen sich von Kindesbeinen an. Später wird „Ich sehe was, was du nicht siehst“ ihr liebstes Spiel, das sie ihr Leben lang begleitet. Die beiden sind die Hauptfiguren im Roman „Was du siehst“ von Laura Maaß. Sie wachsen in einem fiktiven Dorf in der „Griesen Gegend“ im Zonenrandgebiet Mecklenburgs auf.

Die mit Jule hochschwangere Ruth, eine Schneiderin aus dem Osten Berlins, findet 1967 Unterkunft bei ihrem Onkel in dem kleinen Ort, in dem auch Andis Eltern leben. Jules Vater ist spurlos verschwunden. Ruth freundet sich mit Andis Mutter an, daher kennen sich ihre Kinder von klein auf. Ihre Freundschaft erhält eine neue Bedeutung, als sie heranwachsen. Ihre Gefühle füreinander zeigen sich in einem ersten Kuss, den sie sich zu der Zeit geben, in der sie Bewerbungen für Ausbildungsstellen schreiben. Andi möchte Förster werden. Jules Wunschberuf lässt sich zunächst nicht verwirklichen, doch durch einen glücklichen Zufall kann sie schließlich Fotografin werden, wie einst ihr Vater.

Als nach dem Mauerfall eine Ausreise möglich wird, begibt sich Jule auf eine Suche, um ein Familiengeheimnis aufzudecken. Das Kinderspiel aus alten Zeiten erhält dabei eine neue Bedeutung und wird zum Titel des Romans. Farben in vielen Facetten durchziehen die Erzählung und geben den Kapiteln ihre Überschriften.

Laura Maaß gelingt es, die Charaktere stimmig im Denken und Verhalten der Zeit ab 1967 darzustellen. Die Ereignisse sind chronologisch erzählt, wodurch die Entwicklung der Hauptfiguren besonders greifbar wird. Der Zusammenhalt in der Dorfgemeinschaft ist herzerwärmend. Jede und jeder wird mit seinen Stärken und Schwächen abgebildet. Die Handlungen der Personen sind eingebunden in die gesellschaftlichen Umbrüche ihrer Zeit, ohne dass diese sich in den Vordergrund drängen.

Besonders schön ist es, Jule und Andi über Kindheit und Jugend hinweg über einen so langen Zeitraum zu begleiten. An ihrer Seite treten zahlreiche Wegbegleitende, deren eigene Hintergründe kleine Geschichten innerhalb der Erzählung bilden. An einigen Stellen deutet Laura Maaß die weitere Entwicklung einer Begebenheit an, was die Tragweite des Geschehenen unterstützt. Es sind die alltäglichen Dinge und die Sorgen von Menschen, wie jeder Lesende sie kennt, die an eigene Erfahrungen erinnern und bewegen. Lediglich der etwas überstürzte Beginn von Jules Suche und deren Länge fand ich eher weniger glaubhaft.

Mit ihrem Roman „Was du siehst“ zeigt Laura Maaß ihr feines Gespür für Zwischentöne. Glaubwürdige Charaktere und eine lebendige Schilderung von Zeit und Orts verleihen der Geschichte Tiefe und bieten eine ergreifende Unterhaltung. Gerne empfehle ich das Buch weiter.

Samstag, 4. Oktober 2025

Rezension: Nächte einer Hexe von Genoveva Dimova


Nächte einer Hexe
Autorin: Genoveva Dimova
Übersetzer: Wieland Freud und Andrea Wandel
Hardcover: 448 Seiten
Erschienen am 13. September 2025
Verlag: Klett-Cotta
Link zur Buchseite des Verlags

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Es sind einige Monate vergangen, seit Kosara den Zmey in die Mauer eingebettet hat. Doch obwohl in Chernograd Sommer sein sollte ist es eisig kalt. Noch dazu treiben Monster ihr Unwesen in der Stadt, die bis zu den nächsten Schmutzigen Tagen eigentlich im Reich der Monster verweilen sollten. Dann wird auch noch die Hexe Sofiya enthauptet in ihrem Salon aufgefunden. Auf der anderen Seite der Mauer, in Belograd, gab es einen ähnlichen Mord. Asens Ermittlungen zu letzterem führen ihn zurück nach Chernograd und zu Kosara. Kann es ihnen gelingen, die Mordfälle zu lösen, die Monster in Schach zu halten und endlich Karaiwanow das Handwerk zu legen?

„Nächte einer Hexe“ spielt rund ein halbes Jahr nach den Ereignissen von „Tage einer Hexe“. Nach nur wenigen Seiten war ich wieder ganz in die Welt der Hexen und Monster eingetaucht. Zwei Enthauptungen sorgen für Aufsehen, eine Ruba muss gerettet werden und ein riesiger Mratinyak, der alle Hühner und Hähne tötet, muss zurück ins Reich der Monster geschickt werden. Ist ein Problem gelöst, tauchen gefühlt zwei neue auf. Dass Kosaras zwölf Schatten, die ihr große Macht verleihen sollten, ihren eigenen Willen haben, ist dabei nicht unbedingt hilfreich. 

Das Tempo bleibt hoch und ich fieberte mit, ob Kosara und Asen gemeinsam mit ihren Verbündeten wieder Ordnung schaffen können. Es gibt spannende Kämpfe und auch emotionale Momente. Niemand ist sicher, nicht alle liebgewonnenen Charaktere überleben bis zum Schluss. Immer wenn die Geschichte Anstalten macht, cozy zu werden, kommt kurz darauf eine böse Überraschung daher, welche die Spannung wieder auflädt. Wer den ersten Teil gelesen hat, der wird nicht umhin kommen, mit „Nächte dieser Hexe“ ein weiteres Mal in die magische Welt Chernograds einzutauchen. Ich gebe eine große Leseempfehlung an alle, die Lust auf eine kurzweilige, abenteuerliche Hexen- und Monsterfantasy haben!


Freitag, 3. Oktober 2025

Rezension: Bretonische Versuchungen - Kommissar Dupins vierzehnter Fall von Jean-Luc Bannalec

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Bretonische Versuchungen
Kommissar Dupins vierzehnter Fall 
Autor: Jean-Luc Bannalec (Pseudonym von Jörg Bong)
Erscheinungsdatum: 25.06.2025
Verlag: Kiepenheuer & Witsch (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Broschur mit gestalteten Klappen
ISBN: 9783462002508

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Für Kommissar George Dupin scheint der 14. Fall der Reihe von Jean-Luc Bannalec zunächst ein Heimspiel zu werden. Der Mord, den er aufzuklären hat, ist ebenso spektakulär wie verstörend: In einer Confiserie in der Ville Close von Concarneau wird eine Frau kopfüber in einem Bottich mit flüssiger Schokolade aufgefunden. Sie ist eines der drei Geschwister, die das traditionsreiche Familienunternehmen führen.

Als Dupin die Nachricht erreicht, dass es einen Mord gibt, nimmt er gerade an einer Therapie zur Überwindung seiner Thalassophobie teil. Er bricht diese sofort ab, um sich den Ermittlungen zu widmen. Zu diesem Zeitpunkt ahnt er nicht, dass er und seine Kollegin Nolwenn bis zur völligen Erschöpfung viele Stunden ununterbrochen mit dem Fall beschäftigt seine werden. Eine erster Verdacht führt die beiden bald nach Bayonne im Süden Frankreichs, wo sich der Stammsitz der Confiserie befindet. Die Suche nach einem Motiv gestaltet sich schwierig, wodurch sich kaum einschätzen lässt, ob weitere Personen in Gefahr sind.

Als ein weiterer Mord geschieht, läuft dem Kommissar die Zeit davon. Ohne Schlaf, nur mit Kaffee und Schokolade als Wachmacher setzt er seine Recherchen fort. Anders als sonst, bleibt Nolwenn auf eigenen Wunsch stets an seiner Seite. Unzweifelhaft steigert es die Spannung, wenn Dupin ohne Unterbrechung ermittelt, wirkte auf mich jedoch stellenweise eher unrealistisch.

Auch diesmal nimmt der Autor die Lesenden mit an verwunschen schöne Orte, diesmal vor allem in der Umgebung von Concarneau. Das Thema „Schokolade“ hat mich besonders angesprochen. Im Krimi erfuhr ich eine Menge über die Ingredienzien und den Herstellungsprozess. Während der sozusagen atemlosen Ermittlungstätigkeit bleibt das Privatleben des Kommissars und seines Teams nahezu ausgeblendet. Aber ein Hinweis zum Schluss lässt erfreuliche Aussichten ahnen. „Bretonische Versuchungen“ ist definitiv ein Must Read für alle Dupin-Fans und ein aufregender Lesegenuss für die Leserschaft von Kriminalromanen. Inzwischen wurde der Band verfilmt und ich freue mich schon auf die Ausstrahlung.

Rezension: Weißt du eigentlich, wie lieb ich dich hab? ...wenn die Schneeflocken fallen von Sam McBratney und Anita Jeram


Weißt du eigentlich, wie lieb ich dich hab? ...wenn die Schneeflocken fallen
Autor: Sam McBratney
Illustratorin: Anita Jeram
Übersetzer: Rolf Inhauser
Pappbilderbuch: 24 Seiten
Erschienen am 24. September 2025
Verlag: FISCHER Sauerländer
Link zur Buchseite des Verlags

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Es hat geschneit! Der kleine und der große Hase sind in der weißen Schneelandschaft unterwegs und spielen „Ich sehe was, was du nicht siehst“. Denn auch im Winter gibt es draußen einiges zu entdecken. Der kleine Hase macht es schließlich ganz schön knifflig. Das bringt auch den große Hasen auf eine tolle Idee.

Mein Sohn lässt sich die Geschichten vom kleinen und großen Hasen immer wieder gerne vorlesen. Die Neuauflage dieser winterlichen Geschichte kommt in einem stabilen und handlichen Format für kleine Kinderhände daher und durfte in unserer Sammlung nicht fehlen. Die vertrauten Motive sind hier von einer Schneeschicht bedeckt, die Lust auf die ersten Schneeflocken macht. 

Auf jeder Seite stellen der kleine und der große Hase sich abwechselnd Aufgaben, die erfolgreich gelöst werden. Aber es wird immer schwieriger! Die letzte Aufgabe vermittelt eine wunderschöne Botschaft – gesucht wird das Liebste, was der große Hase hat – und macht Lust darauf, das Buch gleich wieder von vorn zu lesen. Eine wunderschöne, winterliche Geschichte, die sich auch perfekt als Geschenk für Nikolaus oder Weihnachten eignet.


Mittwoch, 24. September 2025

Rezension: Komm und such mich! sagt der kleine Dachs von Constanze von Kitzing


Komm und such mich! sagt der kleine Dachs
Illustratorin: Constanze von Kitzing
Pappbilderbuch: 10 Seiten
Erschienen am 24. September 2025
Verlag: FISCHER Sauerländer
Link zur Buchseite des Verlags

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Der kleine Dachs sucht seine Freunde, um mit ihnen etwas zu spielen. Hinter einem Blätterhaufen raschelt es und im Gebüsch hört er ein Pupsen. Wer war das denn? Das Suchspiel ist bereits in vollem Gange – und am Ende darf sich auch der Dachs selbst verstecken.

Mein Sohn liebt es aktuell sehr, Guckguck zu spielen, daher sind auch Versteckbücher gerade bei ihm ganz hoch im Kurs. Der Dachs und seine Freunde sind in weichen Farben gezeichnet und ihre freundlichen, neugierigen Gesichtsausdrücke machen Lust auf das gemeinsame Suchen. Es gibt fünf Doppelseiten, auf denen jeweils ein Tier gefunden werden muss. Dabei wird das Kind immer direkt angesprochen und gefragt, was sich seiner Meinung nach hinter der Klappe verbirgt.

Die Klappen lassen sich mal zur Seite und mal nach unten öffnen. Mein Sohn hatte den Dreh schnell raus. Sie haben ein gutes Format für kleine Kinderhände, könnten aber noch etwas stabiler sein. Das Buch ist bereits das siebte aus der Reihe rund um den kleinen Dachs, für mich aber das Erste. Hier kam es sehr gut an, weshalb ich es gerne weiterempfehle.


Sonntag, 21. September 2025

Rezension: Der Kreuzweg der Raben von Andrzej Sapkowski


Der Kreuzweg der Raben
Autor: Andrzej Sapkowski
Übersetzer: Erik Simon
Hardcover: 352 Seiten
Erschienen am 2. September 2025
Verlag: dtv
Link zur Buchseite des Verlags

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Geralt von Riva hat erst kürzlich seine Ausbildung zum Hexer in der Festung Kaer Morhen abgeschlossen und ist ins Land Kaedwen gereist, um dort nach Arbeit zu suchen. Schon bald endet er beinahe am Strick, nachdem er einen Räuber getötet hat, der ein Bauernmädchen schänden wollte. Doch er erhält unverhofft Hilfe und lernt so seinen neuen Mentor kennen, den Hexer Preston Holt, von dem er erstaunlicherweise nie zuvor gehört hat. Von ihm lernt er eine neue Art zu kämpfen und erfährt von Vorfällen aus der Vergangenheit der Hexer, die ihm bislang verschwiegen wurden. Er kommt nicht nur Monstern auf die Spur, sondern auch Menschen, die schon lange nichts Gutes mehr im Sinn haben.

Mit „Der Kreuzweg der Raben“ kehrt Andrzej Sapkowski noch einmal ins Witcher-Universum zurück und präsentiert seinen Leser:innen einen jungen, unerfahrenen Geralt von Riva. Er steckt voller Tatendrang, ist aber noch sehr impulsiv und wenig kampferfahren. Damit bringt er sich in Schwierigkeiten, doch zum Glück gibt es auch ihm wohlgesonnene Charaktere, die ihm helfen und von denen er lernen kann. 

Eine Weile wirkt das Buch wie eine lose Aneinanderreihung von Aufträgen und die Kapitel lesen sich wie Kurzgeschichten. Erst mit der Zeit kristallisiert sich ein übergreifender Handlungsbogen heraus, in dem Intrigen, Machtspiele und moralische Entscheidungen im Vordergrund stehen. Wer die Reihe rund um den Witcher bereits kennt, der freut sich über neue Informationen zu den Ursprüngen der Hexer und eine Begegnung mit Nenneke. Aber auch ohne Vorkenntnisse findet man hier ein lesenswertes Abenteuer vor. „Der Kreuzweg der Raben“ ist spannend, intensiv und fesselnd erzählt. Ein Muss für Witcher-Fans und ein idealer Einstieg für alle, die Geralt noch nicht kennen und ganz von vorn beginnen möchten.


Rezension: Kleine Wunder in der Mitternachtskonditorei von Lee Onhwa

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Kleine Wunder in der Mitternachtskonditorei
Autorin: Lee Onhwa
Übersetzerin aus dem Koreanischen: Alexandra Dickmann
Erscheinungsdatum: 27.08.2025
rezensierte Buchausgabe: Hardcover
ISBN: 9783651025226

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Die siebenundzwanzigjährige Yeonhwa erbt in Lee Onhwas Roman „Kleine Wunder in der Mitternachtskonditorei“ die Konditorei ihrer Großmutter. Obwohl sie selbst eine talentierte Bäckerin ist, möchte sie das Geschäft zunächst nicht übernehmen. Doch der Anwalt macht ihr aufgrund der Lage wenig Hoffnung auf einen lukrativen Verkauf. Er konfrontiert sie außerdem mit den ungewöhnlichen Bedingungen, die an das Erbe geknüpft sind: Yeonhwa muss die Konditorei mindestens einen Monat lang führen, darf sie nur von 22 Uhr bis Mitternacht öffnen und soll sich auf all das freuen, was in dieser Zeit geschieht.

Bereits an ihrem ersten Abend begegnet sie dem Großhändler Sawol, der sämtliche Zutaten für den Laden besorgt, aber gleichzeitig auch als Schamane tätig ist. Kurz darauf erscheint eine erste Kundin, die ein Geist ist, wie sich schnell herausstellt. Von nun an taucht jede Nacht ein anderer verstorbener Gast auf, der ihr in der Ich-Perspektive von seinem Leben und seinem Tod erzählt. Nach den Rezepten der Großmutter bereitet Yeonhwa jedem von ihnen ein besonderes Gebäck zu, das für die Besuchenden eine magische Wirkung entfaltet. Auf einer dem Buch beigelegten Karte findet sich eines der Rezepte, weitere sind über den aufgedruckten QR-Code im Internet aufrufbar.

Die tragischen und berührenden Geschichten der Toten nehmen einen breiten Raum ein. Lee Onhwa ist eine südkoreanische Autorin, die einiges von der Lebenswelt ihres Landes in den Roman einfließen lässt. Yeonhwa, die im Haus ihrer Großmutter aufgewachsen ist, hat sich mit der Zeit von ihr entfremdet und für sich einen Weg gefunden, in der die Konditorei keine Rolle mehr spielte. Sie wirkt manchmal ein wenig naiv, zeigt jedoch große Empathie und setzt alles daran, den Geistern Trost zu spenden. Gleichzeitig verarbeitet sie dabei ihre eigene Trauer.

„Kleine Wunder in der Mitternachtskonditorei“ von Lee Onhwa ist ein feinfühlig erzählter Roman mit einer Spur von magischem Realismus, der bewegt und nachklingt. Gerne vergebe ich eine Leseempfehlung.

Mittwoch, 17. September 2025

Rezension: Goldstrand von Katerina Poladjan

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Goldstrand
Autorin: Katerina Poladjan
Erscheinungsdatum: 27.08.2025
Verlag: S. Fischer (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN: 9783103971767
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Im Roman „Goldstrand“ von Katerina Poladjan liegt der etwa sechzig Jahre alte Filmregisseur Edi in Rom auf der Couch seiner „Dottoressa“ genannten Psychotherapeutin. Die beiden haben bereits zahlreiche Sitzungen hinter sich. Die Inhalte der mehr als dreißig bereits abgehaltenen Stunden bleiben im Dunkeln. Nun erinnert Edi sich daran, wie seine Eltern sich kennengelernt haben.

Er erzählt, wie sein Großvater zu Beginn der 1920er-Jahre mit seiner Tochter Vera und seinem Sohn Felix wegen der Hungersnot in der Ukraine aus Odessa nach Konstantinopel flieht. Auf der Überfahrt verschwindet Vera spurlos. Niemand hat gesehen, ob sie über Bord ging. Es beginnt eine jahrelange, von Hoffnung und Verzweiflung geprägte Suche nach ihr.

Später erinnert Eli daran, wie seine italienische Mutter im bulgarischen Warna den Architekten Felix kennenlernt und dieser sein Vater wurde. Mit dieser Begegnung ist der Bau des ersten Hotels am sogenannten Goldstrand verbunden, der später ein internationaler Ferienort werden sollte. Hier bestehen keine politisch bedingten Einschränkungen für einen Besuch. Das Trauma von Veras Verschwindens prägt die Familie bis in die Gegenwart. Eli benennt nicht nur seine Tochter nach ihr, sondern widmet der Geschichte seiner Vorfahren auch Filme.

Nach und nach wird deutlich, dass Eli ein unzuverlässiger Erzähler ist, was auch die Dottoressa bemerkt. Er lässt Erinnerungen, Fantasien und Zukunftsvorstellungen ineinanderfließen, sodass der Lesende unsicher wird, was tatsächlich geschehen ist.

Eli erscheint zunächst als ein familienverbundener Mensch, doch seine gescheiterte Ehe, sein distanziertes Verhältnis zur Tochter und ein erschreckender Gedanke, den er etwa in der Mitte des Romans hat, zeichnen ein komplexeres Bild. Im weiteren Verlauf bleiben die Therapiegespräche nicht mehr im vertrauten Dialog, wodurch Edi die Aufmerksamkeit der Dottoressa zu entgleiten droht.

Das Ende der Geschichte bringt eine überraschende Wendung. Obwohl die Handlung stark auf die Figuren fokussiert ist, treten auch die gesellschaftlichen Umbrüche an den Handlungsorten deutlich hervor. Die Fabulierkunst des Filmregisseurs ist stellenweise amüsant, auch wenn einige Geschehnisse tragisch sind.

„Goldstrand“ von Katerina Poladjan ist ein Roman zwischen Realität und Imagination des Protagonisten. Er ringt mit einem generationenübergreifenden Trauma und sucht auf der Couch seiner Therapeutin nach einer Möglichkeit, es zu verarbeiten. Mit seiner Fantasie kann er sich eigene Wirklichkeiten erschaffen. Gerne vergebe ich eine Leseempfehlung für diese erfinderische Erzählung.

Sonntag, 14. September 2025

Rezension: Wenn du es heimlich machen willst, musst du die Schafe töten von Anna Maschik

 


Rezension von Ingrid Eßer


Titel: Wenn du es heimlich machen willst, musst du die Schafe töten
Autorin: Anna Maschik
Erscheinungsdatum: 10.09.2025
Verlag: Luchterhand (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN: 9783630878140

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In ihrem Roman ‚Wenn du es heimlich machen willst, musst du die Schafe töten‘ zeichnet Anna Maschik das vielschichtige Porträt einer Familie über mehrere Generationen. Die Erzählung entfaltet sich Schicht um Schicht, wie die Zitrone, die auf dem Cover abgebildet ist. Sie beginnt vor mehr als hundert Jahren mit der dreizehnjährigen Bäuerin Henrike, die nach dem frühen Tod der Mutter den Haushalt für ihren Vater und ihre Brüder führt. Sie leben in einem Dorf im Norden Deutschlands. Um den Hunger der Familie zu stillen, schlachtet sie unerlaubterweise ein Schaf, was anders als bei anderen Arten lautlos vonstatten. Mit dieser Handlung beginnt das Buch und gibt ihm den Titel.

Henrikes Urenkelin Alma tritt als Erzählerin der Geschichte auf. Sie fügt die überlieferten Episoden, die nicht immer chronologisch angeordnet sind, mosaikartig zusammen. Anna Maschik gestaltet ihren Roman abwechslungsreich: Sie verwendet zahlreiche Stilmittel wie beispielsweise Metaphern, Repetitionen und Personifikationen. Durch eingestreuten Realismus erscheinen einige Begebenheiten unrealistisch, aber Alma erzählt so, wie sie es gehört hat. Die Lesenden sind gefordert, das Geschehen nach ihren eigenen Vorstellungen zu deuten. Der lange Schlaf einer Figur lässt auf ihre Bedeutungslosigkeit in dieser Zeit schließen, das Verblassen der Farben wird zum Symbol für ein anhaltendes Gefühl von Trauer. Politische Veränderungen haben spürbare Auswirkungen auf das tägliche Leben der Familien.

Die unbenannten Kapitel sind kurz und bestehen mehrfach nur aus einer Auflistung, mit denen Alma sich Übersichten zu bestimmten Themen schafft und dabei Gegensätze verdeutlicht. Die Sätze sind auf das Wichtigste beschränkt, doch trotz der dadurch entstehenden Lücken erhält man einen guten Einblick in das entbehrungsreiche bäuerliche Leben. Nach der Heirat von Almas Großmutter mit dem Sohn eines Möbelhändlers sind die nun veränderten alltäglichen Herausforderungen ebenso nachvollziehbar geschildert. Über die Generationen hinweg bringt die Autorin zum Ausdruck, dass die Mütter und die Väter sich darüber uneins sind, ob ein weiblicher oder ein männlicher Nachwuchs es leichter im Leben haben wird. Die Frauen haben den Wunsch, ihre Erziehung anders zu gestalten als die eigene Mutter, doch Anna Maschik zeigt, dass sich dennoch gewisse Muster ungewollt ständig wiederholen. Die Ablösung von der vorherigen Generation erweist sich selbst bei räumlicher Distanz als schwierig.

Anna Maschiks Roman „Wenn du es heimlich machen willst, musst du die Schafe töten“ ist eine kunstvoll geschichtete Erzählung, die über Jahrzehnte auf das Gefüge einer Familie blickt. Die Belastungen des Alltags, die Freuden und Sorgen, die Liebe und das Leid der Figuren werden spürbar, lassen aber Platz zur eigenen Interpretation. Sehr gerne vergebe ich eine Leseempfehlung für dieses eindrucksvolle Buch.

Freitag, 12. September 2025

Rezension: Lieselotte, wer versteckt sich hier? von Alexander Steffensmeier


Lieselotte, wer versteckt sich hier?
Autor: Alexander Steffensmeier
Pappbilderbuch: 10 Seiten
Erschienen am 27. August 2025
Verlag: FISCHER Sauerländer
Link zur Buchseite des Verlags

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Lieselotte spielt mit ihren Freunden auf dem Bauernhof verstecken. Der Hund, die Ziege, die Hühner und Schweine und das Pony haben sich versteckt. Ist das hinter dem Holzstapel ein Ringelschwanz oder nur das Ende des Gartenschlauchs? Und was ist hinter der Wäscheleine versteckt, wo Lieselotte doch schon alle Tiere gefunden hat?

„Lieselotte, wer versteckt sich hier?“ ist mein erstes Buch aus der bereits viele Bände umfassenden Reihe rund um die Kuh Lieselotte. Das besondere an diesem fünf Doppelseiten umfassenden Pappbilderbuch sind die großen Klappen, die zum Beispiel einen Traktor oder eine alte Badewanne zeigen und hinter denen sich die Tiere versteckt haben.

Mein Sohn findet es spannend, die Tiere auftauchen und wieder verschwinden zu sehen. Er hatte mit seinen 8 Monaten den Dreh schnell raus und klappt gerne immer wieder auf und zu. Die Klappen müssen dabei einiges aushalten, ich hätte sie mir noch etwas stabiler gewünscht. Insgesamt ein wirklich schönes, liebevoll illustriertes Pappbilderbuch, das zum Entdecken einlädt.


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