Autor: Bernhard Schlink
Erscheinungsdatum: 23.09.2015
Verlag: Diogenes
rezensierte Buchausgabe: Arbeitsexemplar
Handlungsort: Sydney/Australien und Deutschland
Handlungszeit: Gegenwart und 1970er Jahre
Der Ich-Erzähler des Romans „Die Frau auf der Treppe“ von
Bernhard Schlink ist Seniorpartner in einer deutschen Rechtsanwaltskanzlei, um
die 60 Jahre alt, Witwer mit drei erwachsenen Kindern, und weilt nun im Rahmen
eines Auftrags in Sydney/Australien. Bei einem Besuch der Art Gallery steht er
plötzlich einem Bild gegenüber, das ihm aus jungen Jahren nur allzu bekannt ist
und das er verschollen geglaubt hat. Auf dem Gemälde ist, grob gesagt, eine
nackte Frau zu sehen, die eine Treppe hinabsteigt. Der Rechtsanwalt kennt die
Frau auf dem Bild, denn für sie hat er das einzige Verbrechen seines Lebens
begangen. Die Frau, Irene mit Namen, stand zu diesem Zeitpunkt vor 40 Jahren in
einer Beziehung zu dem Maler des Gemäldes. Von ihrem Mann, der das Bild in
Auftrag gab und in dessen Besitz es ist, hatte sie sich getrennt, nachdem sie
den Künstler beim Portraitieren kennengelernt hatte. Maler wie Ehemann kämpften
sowohl um das Bild wie auch um Irene und der Jurist sollte beiden zu ihrem
Recht verhelfen.
In der Gegenwart begibt sich der Erzähler der Geschichte auf
die Suche nach Irene, die er in Australien wähnt. Und er wird nicht enttäuscht.
Verbunden mit der Suche nach der Frau ist auch die Erfüllung seines damaligen
Wunschs, der Person Irene näher zu kommen. Mit dem Verschwinden des Gemäldes
und der Frau hatte der Wunsch ein jähes Ende gefunden.
Zum ersten Mal seit Jahren oder sogar Jahrzehnten nimmt er
sich derzeit eine Auszeit. Seine Gedanken schweifen über sein Leben. Doch nicht
nur die damaligen Geschehnisse lässt er Revue passieren, sondern er denkt auch
an die Jahre zwischen den Ereignissen und der Gegenwart, die hauptsächlich
angefüllt sind mit seiner Tätigkeit in der Kanzlei. Natürlich hat er eine
vorzeigbare Frau gefunden, mit der er Kinder hat, um die sich aus seinem
Selbstverständnis heraus seine Frau kümmert. Obwohl ihm Alkoholismus ein
Begriff ist, hat er angeblich nie bemerkt, dass seine Frau dieser Sucht verfallen
ist. Über diesen Punkt in seinem Leben nimmt er keine Kritik an. In Gesprächen
mit Irene macht diese ihm bewusst, welche schönen Seiten des Lebens er durch
seine Arbeitsbelastung und der dazugehörigen eigenen Einstellung verpasst hat.
Er hat sich von jeher seine eigenen Pflichten gesetzt und war sich selbst der
nächste.
Nun, da sein Denken Freiraum gewinnt, kommt Reue ob der
verpassten Chancen in seinem Leben auf. Gemeinsam mit Irene versucht er sich im
Ausgleich eine Parallelwelt zu schaffen. Doch diese ist und bleibt Schein und
kann nicht zum Ersatz werden. Der Schluss des Romans lässt darauf hoffen, dass der
Ich-Erzähler den Empfehlungen von Irene nachkommen wird, denn kleine widersetzliche
Gedankenfetzen sind da und könnten sich nach der Rückkehr im Alltag
breitmachen.
Allgemein gesehen ist der Roman in einer leicht lesbaren
Sprache geschrieben. Zu Beginn hatte ich allerdings ein paar Probleme mit der
zeitlichen Zuordnung der erzählten Lebensabschnitte, die sich aber letztendlich
im größeren Zusammenhang an ihren Platz einordnen ließen. Die Geschichte ist
sicher nicht aus dem Leben gegriffen und gewöhnlich, dazu ist die
Wahrscheinlichkeit, dass ein Gemälde in dem beschriebenen Maßstab an einem so
illustren Ort wie aus dem Nichts auftaucht, zu gering. Im Vergleich dazu die
Lebensgeschichte des Juristen sicher überspitzt, aber alltäglicher. Der
Ich-Erzähler steht in seiner Namenlosigkeit für manche über die Maßen in seine
Arbeit involvierte Person. Der Charakter der Irene ist mit einem ungewöhnlichen
Leben verknüpft, das ich für denkbar halte. Die Konsequenzen, die sie aus der Auseinandersetzung
zwischen Maler und Ehemann gezogen hat sind nachvollziehbar und daraus
resultieren auch ihre späteren Handlungen.
Für mich war der Roman kein großes Buch-Highlight, aber eine
unterhaltsame Geschichte, die dazu anregt, bei Zeiten einen Blick auf sein
momentanes Tun zu werfen und in Frage zu stellen.
(Ingrid)