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Titel: Meine geniale Freundin
Titel: Meine geniale Freundin
Autorin: Elena Ferrante
Übersetzerin: Karin Krieger
Erscheinungsdatum: 29.08.2016
Verlag: Suhrkamp Verlag (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag
„Meine geniale Freundin“ ist der erste Band einer
vierteiligen Serie einer italienischen Autorin, die unter ihrem Pseudonym Elena
Ferrante veröffentlicht. Die Buchreihe handelt von einer Frauenfreundschaft,
die in Neapel in den 1950er Jahren beginnt und inzwischen mehr als 60 Jahre
besteht. Der Ich-Erzählerin Elena, von Freunden auch Lenù genannt, begegnete
ich erstmals im Prolog des Romans in der Gegenwart. Sie wohnt inzwischen in
Turin und erhält von Rino, dem Sohn ihrer Freundin, einen Anruf aus Neapel,
denn seine Mutter ist seit zwei Wochen verschwunden. Ihre Freundin Raffaella,
die von Elena nur Lila gerufen wird, hat seit etwa drei Jahrzehnen angekündigt,
dass sie sich irgendwann spurlos auflösen würde, sie wollte auf ihre ganz eigene
Art ihr vergangenes Leben auslöschen.
Ich vertraue darauf, dass ihre geniale Freundin Elena in der
Lage ist, sie zu finden. So habe ich gerne damit begonnen, die Geschichte der
beiden Protagonistinnen zu lesen, deren Freundschaft mit einer Mutprobe begann.
Ich bin gespannt, ob Elena die Suche nach ihrer Freundin aufnehmen und sie
sogar aufspüren wird.
Lila und Elena sind im gleichen Alter und besuchen die
gleiche Grundschulklasse. Wie in den 1950er Jahren allgemein üblich, wurde sehr
viel im Freien gespielt. Elena und ihre Freunde halten sich dabei bis etwa zum
Ende ihrer Grundschulzeit ausschließlich
in ihrem Wohnviertel auf. In Gebäuden mit mehreren Stockwerken leben hier
Handwerker mit ihren Familien, städtische Angestellte mit kleinem Gehalt oder
auch Kaufleute, die Waren des täglichen Bedarfs vor Ort verkaufen. Um den
Überblick über die Mitglieder der für die Erzählung wichtigsten Familien nicht
zu verlieren, findet sich am Anfang des Buchs ein Personenverzeichnis. Ein
Lesezeichen mit einer ähnlichen Auflistung liegt dem Roman bei.
Lilas Vater repariert
Schuhe und Elenas ist Pförtner in der Stadtverwaltung. Die Freundinnen sind
nicht nur äußerlich sehr unterschiedlich. Vor allem fällt Lila durch ihre
Vorwitzigkeit auf. Lesen, Schreiben und Rechnen kann sie bereits vor Schulbeginn.
Ihr Bruder ist sechs Jahre älter, in ihm hat sie ein Vorbild dem sie
nacheifert. Durch das Lesen von geliehenen Büchern aus der örtlichen Bibliothek
erweitert sie ihr Wissen über die allgemeinen Kenntnisse der Bewohner des Viertels
hinaus. Elena bewundert Lila. Sie selbst ist ruhig, wirkt eher schüchtern und hat
nur jüngere Geschwister. Ihre Eltern setzen daher mit ihren Entscheidungen in
Bezug auf die Erziehung von Elena Maßstäbe für ihre übrigen Kinder, sie
erwarten von ihrer Ältesten vorbildliches Verhalten.
Damals herrschte nicht nur in Italien ein geteiltes
Rollenbild vor, nach dem der Mann für die Familie zu sorgen hat indem er durch
Arbeit Geld verdient und die Frau ihrem Ehemann gehorcht, den Haushalt führt
und den Lebensabend durch viele Kinder absichert. Der Umgang miteinander ist
oft grob und Gewalt ist an der Tagesordnung. Vorrangig dient sie zur
Herstellung von Gerechtigkeit. Auch im Kampf um einen hohen Rang in der
sozialen Hierarchie der Gleichaltrigen sind heftige Prügeleien keine Seltenheit,
vorwiegend bei den Jungen. Beide Mädchen sind sehr intelligent und ihre
Lehrerin plädiert bei den Eltern für eine Fortsetzung der Schullaufbahn. Doch
Lilas Eltern sind dagegen. Zwar bringen Elenas Eltern das benötigte Geld für
die Schule mühsam auf, setzen Elena damit aber auch unter einen gewissen
Erfolgsdruck. Elena, die bisher Lila in allem nachgeeifert hat und eifersüchtig
auf deren Erfolge war, sieht für sich selbst nun im direkten Vergleich eine
glücklichere Zukunft gesichert. In der Pubertät stellen sich bei den
Freundinnen aber nicht nur körperliche Veränderungen ein. In Elena blitzt die Überlegung
auf, dass der voraussichtliche Lebensweg von Lila vielleicht der
Beneidenswertere ist.
Elena Ferrante gewährte mir als Leser einen voyeuristischen
Blick auf den Alltag von Kindern beziehungsweise Jugendlichen, die in einem
Stadtviertel Neapels aufgewachsen sind. Ich konnte mich gut in deren Umfeld hineindenken und der
Vergleich zu meiner eigenen Kindheit in einem kleinen deutschen Dorf lag nahe.
Dabei habe ich beispielsweise Mitleid gehabt, wenn die beiden körperlich
gemaßregelt wurden, habe sie aber auch um die Leihmöglichkeit von Büchern
beneidet. Auch die Wahl der Ich-Form als Erzählperspektive hat die Einblicke in
den Alltag für mich vertieft. Elena erzählt als Mittsechzigerin in Erinnerung
an ihre Jugend. Dabei sind einige Gedanken nur vage, wieder andere jedoch sehr
ausgeprägt, vor allem solche, die für sie etwas Besonderes darstellen und ihre
Freundschaft zu Lila mit allen Höhen und Tiefpunkten verdeutlichen. Ihre
Erzählung über ihre Grundschuljahre ist eher schlicht, von ihrer Wahrnehmung
als Kind beschränkt. Als Jugendliche gehören zu ihrer Peer-Group weiterhin die Gleichaltrigen
des Viertels. Doch der Besuch der weiterführenden Schule bringt für Elena ganz
eigene Probleme mit sich.
Die Suche nach dem Schuldigen, Vergeltung, Liebe, Hass und
Vergebung sind an der Tagesordnung in der Welt der beiden Freundinnen Elena und
Lila. So anschaulich und intensiv wie die Autorin die Kindheit und Jugend
beschreibt, habe ich mich oft gefragt, wie viel davon die Autorin selbst erlebt
hat. Interessant fand ich es, welchen Schwankungen zwischen Abneigung und
Bewunderung die Freundschaft unterliegt, war aber gleichzeitig von Beginn an
beruhigt darüber, dass sie auch nach über 60 Jahren immer noch besteht. Das Buch endet mit einer neuen Erkenntnis für Lila, die meine Freude auf das
Lesen des nächsten Buchs noch ein wenig steigert. Gerne empfehle ich den Roman
uneingeschränkt weiter.