Montag, 25. September 2017

[Rezension Ingrid] Die Geschichte der getrennten Wege von Elena Ferrante



Mit dem Roman „Die Geschichte der getrennten Wege“ liegt nun auch der dritte Band der vierteiligen Reihe von Elena Ferrante rund um die Ich-Erzählerin Elena und ihrer gleichaltrigen Freundin Raffaella, die von Elena Lila gerufen wird, in deutscher Übersetzung vor. Die Protagonistinnen verbindet eine über 60-jährige Freundschaft. Der vorliegende Roman erzählt von der Zeit, in der Lila weiterhin in Neapel wohnt und Elena als junge Ehefrau nach Florenz zieht. Es ist Ende der 1960er beziehungsweise es sind die 1970er Jahre und Italien wird von sozialen Unruhen erschüttert. Doch obwohl sie räumlich voneinander getrennt leben und einander nur noch selten sehen, reißt die Verbindung nie gänzlich ab und sie halten telefonischen Kontakt. Die Rivalität um einen Vorrang in ihrer Freundschaft bleibt dennoch weiter bestehen.

Der Erzählung voran gestellt ist eine Liste der handelnden Personen und die wichtigsten Ereignisse der Vergangenheit in die sie eingebunden waren. Der Roman beginnt zunächst im Jahr 2010, Lila wird vermisst und Elena schreibt über ihre gemeinsame Freundschaft. Bei ihrem letzten Treffen vor fünf Jahren hat sie einige nachteilige Veränderungen an Lila wahrgenommen. Sie deutet dem Leser an, dass in der Zwischenzeit einiges Furchtbares geschehen ist. Mich machte das natürlich neugierig, denn ich wollte wissen, was sich in den vergangenen Jahren Schreckliches ereignet hat. Gespannt wartete ich aber auch darauf, von schönen Erlebnissen der jungen Frauen in Neapel und Florenz zu erfahren, denn immerhin dauerte die Freundschaft der beiden Frauen weiterhin an.

Zunächst sieht es so, als ob Elena das Glück gefunden hat. Sie hat ein Buch geschrieben, das veröffentlicht wurde und erfolgreich ist. Mit Pietro Airota, den sie während ihres Studiums kennenlernte, hat sie den Sohn einer angesehenen und wohlsituierten Mailänder Familie geheiratet. Vergleichsweise jung wird er zum Universitätsprofessor berufen und erhält einen Lehrstuhl in Florenz. Schon bald wird Elena schwanger. Lila hat sich aus ihrer Ehe mit Stefano befreit und lebt mit einem Freund aus Kindheitstagen zusammen. Während sie ihren kleinen Sohn von einer Nachbarin betreuen lässt arbeitet sie selbst Vollzeit in einer Wurstfabrik. Die Arbeitsbedingungen sind hart und die Arbeiter permanent unzufrieden. Glaubte ich nun, dass beide den sich aus der Situation heraus vorgezeichneten Lebensweg gehen würden, so lag ich gänzlich falsch. Elena Ferrante hat sich für ihre Figuren ein Auf und Ab des Schicksals erdacht, bei der die Figur des Nino Sarratore, der mir als Leser bereits seit Band 1 der Romanserie bekannt war und der eventuell der Vater von Lilas Sohn ist, eine bedeutende Rolle spielt.

Elena hat viel Zeit dafür aufgewendet sich aus dem neapolitanischen Milieu zu lösen. Dabei spricht sie bewusst keinen Dialekt mehr. Von sich selbst sagt sie, dass ihre Sprache männlicher geworden ist mit dem Ziel, sich von der durch Männern dominierten Gesellschaft zu lösen. Denn nur wer auf Augenhöhe agieren kann, wird auch die Hintergründe begreifen. Ihr Verhalten hat sie insgesamt einer höheren Gesellschaftsschicht angepasst. Und dennoch ist sie nicht zufrieden mit ihrer Arbeit. Nach einer ersten Welle der Anerkennung für ihr Erstlingswerk, bleiben die Ideen zu einer Fortsetzung ihres Schreibens bruchstückhaft. Von der traditionellen Rolle als Hausfrau und Mutter kann sie sich nicht gänzlich lösen und findet bei ihrem Mann keine Unterstützung zur Selbstverwirklichung, weil er seine eigene Karriere vorantreiben will.

Ende der 1960er beginnen die Arbeiter in Italien gegen die wirtschaftliche und soziale Ungerechtigkeit aufzubegehren. Am Beispiel der Wurstfabrik, in der Lila arbeitet, bindet die Autorin diesen historischen Aspekt in ihren Roman ein. Kommunisten und Faschisten versuchen die Oberhand zu gewinnen und bekämpfen nicht nur den sozialen Missstand sondern sich auch gegenseitig. Dabei kommt es in Neapel zu blutigen Kämpfen. Ich erlebte Lila in der täglichen Tretmühle der eintönigen Fabrikarbeit. Doch wem die Figur im Roman inzwischen vertraut geworden ist wie mir, kennt Lila als einfallsreich und intelligent. Sie weiß um ihre Begabung für Ungewöhnliches, denn sie hat auch schon früher Erfolg mit ihrer Kreativität gehabt. So nimmt sie eine Idee ihres Lebensgefährten auf und geht ihr mit Hartnäckigkeit und Ausdauer nach. Lila ist sich darüber bewusst, dass Wissen eine Art Macht über andere Personen mit sich bringt. Sie nutzt es als Werkzeug, um den von ihr gewünschten Platz in der Gesellschaft zu finden.

Elena Ferrante schaffte es, mich mit der Entwicklung ihrer Protagonistinnen immer wieder zu überraschen. Die schöne klare Sprache wird dabei gerade im Umfeld von Lila oft rau, manchmal sogar roh. Doch diese Art unterstützt es, den Kampf der beiden jungen Frauen um einen Platz in der Gesellschaft zu verdeutlichen. Durch die gewählte Erzählperspektive konnte ich dem Versuch Elenas folgen, das geltende Frauenbild in ihrer Zeit zu begreifen, gerade auch aus der Sicht der Männer, genauso wie der Ergründung ihrer eigenen Libido.

Wieder einmal konnte die Autorin mich mit ihrer Erzählung überzeugen. Ich bin schon gespannt darauf, welche Erfahrungen die beiden Freundinnen auf ihrem Lebensweg noch machen werden und ob Lila gefunden wird beziehungsweise gefunden werden will. Wer die Serie noch nicht kennt, sollte jetzt mit dem Lesen beginnen, denn der letzte Band erscheint voraussichtlich im Februar 2018.

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Titel: Die Geschichte der getrennten Wege
Autorin: Elena Ferrante
Übersetzerin: Karin Krieger
Verlag: Suhrkamp (Link zur Buchseite des Verlags)
Erscheinungsdatum: 27.08.2017
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen
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