In Brüssel spielt ein großer Teil der Handlung des Romans
„Die Hauptstadt“ von Robert Menasse, der dafür den Deutschen Literaturpreis
2017 erhalten hat. Der Roman heißt aber nicht nur so, weil Brüssel die
Hauptstadt Belgiens und nebenbei auch Sitz der Europäischen Kommission ist,
sondern weil es nach einem der Charaktere endlich an der Zeit ist, nachnational
zu denken und eine Hauptstadt für Europa zu bauen, funktionell vergleichbar mit
Brasilia.
Die Protagonisten des Romans lernte ich im Prolog kennen, der
umklammert wird von einem Tier, nämlich einem Schwein. Man könnte meinen, hier
wird dem Sprichwort nach eine Sau durchs Dorf getrieben, aber erstens rennt es
geschlechtslos durch eine Stadt und zweitens ist die Ursache dazu nicht
sichtbar, allerdings ist ihm Aufmerksamkeit auf der ganzen Ebene sicher. Und
dabei bleibt es nicht nur für diese kurze Begebenheit, sondern das Thema
„Schwein“ zieht sich durch den Roman in vielerlei Form.
Soviel Interesse wie für das Schwein wünscht sich die
Leiterin der Generaldirektion Kultur der EU auch für ihr Ressort. Denn der
Kultur kommt bei weitem nicht die Beachtung zu wie etwa der Wirtschaft oder der
Energie verbunden mit der Diskussion um den Klimawandel. Eine Jubiläumsfeier
zum 50. Jahrestag der Gründung der Europäischen Kommission soll daher das Image
und damit die Bedeutung der Kultur aufwerten. Nach einer Idee der
Festausrichtung wird gesucht und gefunden, doch die Umsetzung gestaltet sich
schwierig durch die Notwendigkeit der Zustimmung auf nationaler Ebene der
angeschlossenen Staaten.
Während die EU-Mitarbeiter an den Planungen feilen, bereitet
sich einer der letzten Überlebenden von Auschwitz, der in Brüssel lebt, auf
seine letzten Tage vor und ein Kommissar versucht ein vertuschtes Verbrechen
aufzudecken, dass in einem zentral gelegenen Hotel Brüssels geschehen ist just an
dem Tag, an dem das Schwein durch die Straßen rannte. Robert Menasse greift die
losen Fäden der Erzählung auf und führt den Leser unter verschiedenen
Berührungspunkten stringent durch den Roman bis hin zu einem besonders traurigen
Moment in Brüssel im März 2016, der uns alle erschüttert hat.
Mit Martin Schulz und Armin Laschet sind zwei führende
Politiker in diesem Jahr ins Rampenlicht getreten, die eine politische
Vergangenheit auf europäischer Ebene haben und die mir vorher nur deshalb
bekannt waren, weil sie hier im Grenzland zu den Niederlanden zur lokalen
Prominenz gehören. Sollte ich heutige Europapolitiker nennen, käme ich ins
Grübeln und ich glaube, dass es sehr vielen so geht. „Die Hauptstadt“ hat mein
Augenmerk auf einen wichtigen Part unserer Geschichte gelenkt, auf die
Zusammenarbeit der Staaten mit den vielen, nötigen, oft kleinteiligen
Abstimmungen zur Steuerung des Schiffs Europa. Am Rand seines Romans blickt der
Autor auf die Gründe zurück, die zur Zusammenarbeit der ersten Länder Europas führten.
Um seine Schilderung authentisch zu gestalten ist Robert
Menasse für eine Weile nach Brüssel gezogen. Er hat dort das Alltagsleben
beobachtet, den Flair der Stadt aufgenommen und vor allem Gespräche mit Arbeitnehmern
der Europäischen Kommission geführt bei Kaffee und Zigarette, damit er sich in
deren Denkweise hineinversetzen konnte. Seine Charaktere bringen Europa mit in
die multikulturelle Hauptstadt Belgiens. Die meisten Mitarbeiter verlassen ihre
Heimat, um hier zu arbeiten wie beispielsweise die Griechin und Zypriotin Fenia
oder der Österreicher Martin. Der Autor blickt auf deren familiären
Hintergründe und schweift in seinen Schilderungen gern mal ab auf
Begebenheiten, die mir weitere Zusammenhänge in der Europapolitik aufzeigten.
Und immer wieder ist auf allen Ebenen ein großer bürokratischer Aufwand zu
bewältigen. Doch ich konnte den Figuren auch auf privater Ebene begegnen: der
liebenden Frau mit Hintergedanken, dem eher unwirschen und dennoch besorgten
Bruder, dem auf einer Idee beharrenden und seiner Frau nachtrauernden Emeritus
und auch dem Mörder.
Gewürzt mit einer Portion Sarkasmus und einer Prise Ironie
gelingt es dem Autor, die große Politik Europas verbunden mit dem Intrigenspiel
und Machtgerangel der Funktionäre auf allen Ebenen und taktischen nationalen
Abwägungen, ob man den Vorschlägen der Europäischen Kommission zustimmen soll
und will, in einer nachvollziehbaren, ansprechenden Geschichte darzustellen. Meiner
Meinung nach, hat „Die Hauptstadt“ den Deutschen Buchpreis zu Recht erhalten
und ich wünsche dem Roman noch viele weitere Leser.
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Titel: Die Hauptstadt
Autor: Robert Menasse
Erscheinungsdatum: 11.09.2017
Verlag: Suhrkamp (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen
Vielen Dank an den Verlag für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars.