Das Buch „Der Abfall der Herzen“ ist das erste, das Thorsten
Nagelschmidt, der auch kurz „Nagel“ genannt wird, unter seinem realen Namen
veröffentlicht. Es handelt auf zwei Ebenen, nämlich zum einen in der Gegenwart
und zum anderen im Rückblick auf den Sommer des Jahres 1999. Während der Autor zu
Beginn des Romans autobiographisch beschreibt, wie es zu dem Buch gekommen ist,
verschwimmen seine Erinnerungen an die Vergangenheit immer mehr. Daher hat er
nicht nur neue Charaktere als seine damaligen Freunde erfunden, sondern auch
die Ereignisse fiktionalisiert.
Versteht sich „Abfall“ im geläufigen Sinne als Rest der da
bleibt, so ist der Titel passend zu den Versatzstücken zu sehen, die wir mit
dem Blick auf frühere Jahre in unserem Gedächtnis gespeichert haben. Die tief
in unseren Herzen vergrabenen Gefühle spielen uns dabei manches Mal einen Streich
und lassen Szenen ganz anders erinnern als sie sich tatsächlich ereignet haben.
Das Cover ist haptisch sehr schön gestaltet. Der sepiafarbene Hintergrund ist
fühlbar längs gestreift und spiegelt mit dieser klaren Linie die Regeln und
Gesetze der Erwachsenenwelt wieder. Um sich genau davon bewusst abzuheben und
den Trotz widerzuspiegeln erscheinen die Jugendlichen im unteren Drittel in den
kräftigen Farben türkisblau und orange bei ihrem wagemutigen, aber verbotenen
Sprung in den Baggersee.
Der Roman beginnt mit dem Ende, nicht nur weil es vor Beginn
des ersten Kapitels so geschrieben steht, sondern weil Thorsten Nagelschmidt
zunächst erzählt, wie es dazu kam, dass er sich auf Spurensuche in seine
Vergangenheit begibt. Er wohnt heute in Berlin und trifft sich dort eines Tages
mit einem guten Freund, mit dem er Jahre vorher im Clinch lag, an der Bar eines
Möbelgeschäfts. Plötzlich ist die Rede von einem Brief den er ihm 16 Jahre
vorhergeschrieben hat nachdem der Streit angeblich beendet wurde und an den er
sich partout nicht erinnern kann. Aber bereits damals hat der Autor Tagebuch
geführt.
Das Lesen in den alten Kladden wirft jedoch immer neue Fragen
auf, die ihn nicht mehr loslassen. Darum geht er einer Reihe von Anhaltspunkten
nach und vereinbart Termine mit seinen Freunden und Bekannten aus Rheine, der
Stadt, in der er 1999 gewohnt hat. Hier ist er aufgewachsen und wurde zum
Sänger und Songschreiber der Band Muff Potter. Jeder erzählt ihm auf Nachfrage
bestimmte Ereignisse aus seiner eigenen Perspektive. Die inzwischen verwaschenen
Gedanken bieten ein breites Spektrum dessen, was sich abgespielt haben könnte
anstelle von realen Begebenheiten. Erst langsam nähert Thorsten Nagelschmidt
sich einer Wahrheit, die ihn gleichzeitig sich selbst ein wenig besser kennen
und verstehen lässt. Der Sommer 1999 mit all seinen guten und schlechten
Seiten, vor allem aber einer gehörigen Portion Liebeskummer lebt wieder auf für
ihn.
Der Autor hat mir reichliche Denkanstöße gegeben, die auch
mich in meine eigene Jugend entführt haben. Meine Familiengeschichte ist eng
verknüpft mit der Stadt Rheine, so dass ich nicht nur rein gefühlsmäßig in die
Vergangenheit gereist bin, sondern auch einige Örtlichkeiten des Romans kenne.
Und wenn Thorsten Nagelschmidt mit der Bahn von Rheine nach Aachen fährt und
„in einem Kaff namens Lindern“ (S. 167) aussteigt dann ist er nur drei
Stationen vorher an meinem Wohnort vorbei gekommen.
Der Autor ist in den vorigen 16 Jahren auch immer wieder zu
Besuch in seiner Heimat gewesen, aber eher aus Gewohnheit an den immer gleichen
Stätten. Erst der nicht mehr erinnerte Brief führt ihn an Orte zurück, deren
Veränderung er sich jetzt erst bewusst wird. Wie viele andere in seinem Alter
hat er sich gegen das Erwachsen werden aufgelehnt mit der vollen Absicht, bloß
nicht in ausgetretenen Pfaden zu laufen. Sein Studium ruht, die Karriere der
Band letztlich ebenfalls, er hält sich mit gelegentlichen Jobs über Wasser.
Dennoch ist da nie der Gedanke darüber, ob der eingeschlagene Weg der richtige
ist. Viel Alkohol, sogar Drogen und unflätige Manieren sind angesagt, aber
schließlich halten seine Freunde und Freundinnen es genauso. Ihr Verhalten ist
provozierend, Raufereien unter Gleichaltrigen die anderer Meinung sind nichts Ungewöhnliches.
Durch Songs, Filme, Bücher und Ereignissen mit deutschlandweiter Bedeutung wie
beispielsweise der Sonnenfinsternis im August, an die ich mich sehr gut
erinnere, konnte ich mich im Jahr 1999 verorten.
Thorsten Nagelschmidt nutzt eine schlichte Sprache und
erzählt eine alltägliche Geschichte und dennoch machen das Sammelsurium der
fiktiven Freunde, darunter Gedankenspinner und Lebenskünstler, die
unterschiedlicher kaum sein könnten, die Geschichte abwechslungsreich und zu
etwas Besonderem. Es war für mich interessant und spannend zu sehen, was ein Treffen
mit einem alten Freund auslösen und wozu eine Suche in der Vergangenheit führen
kann. Die Erzählung wirkt nicht nur echt, sondern ist es auch. Aus einer
gewöhnlichen Erzählung über seine Jugend verbunden mit Freundschaft, Hass,
Liebe und Ängsten gestaltet der Autor auf eine ganz eigene Weise eine
mitreißende Reise in die Vergangenheit, die auf ihren Ausgang in der Gegenwart ungeduldig
warten lässt. Lassen Sie sich davon mitnehmen!
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Titel: Der Abfall der Herzen
Autor: Thorsten Nagelschmidt
ERscheinungsdatum: 22.02.2018
Verlag: S. Fischer (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag und Leseband (Leseexemplar)