Die fünfzehnjährige June hat eine enge Beziehung zu ihrem Patenonkel
Finn. Sie liebt es, etwas gemeinsam mit ihm zu übernehmen, zum Beispiel zu The
Cloisters zu gehen und sich dort ungewöhnliche Kunstwerke anzuschauen. Doch
Finn ist krank, er wird bald an AIDS sterben. Als es so weit ist, stürzt June
in tiefe Trauer. Doch bald muss sie feststellen, dass ihr entscheidende Dinge
vorenthalten wurden. In Finns Apartment wohnt nun sein „spezieller Freund“, der
von der Familie als Verantwortlicher für Finns Krankheit zur Persona non grata
erklärt wurde. Wer ist dieser schlaksige Kerl, der unbeholfen Kontakt aufnehmen
will? June ist neugierig und beschließt, heimlich mehr darüber herauszufinden.
Insbesondere der ungewöhnliche Titel hat mich auf die Lektüre neugierig
gemacht. Es ist der Titel des Portraits, das Finn kurz vor seinem Tod von June
und ihrer Schwester Greta anfertigt. Dafür fahren sie fast jeden Sonntag zu
ihm. Während die Zeit für June kostbar ist, reagiert Greta zunehmend unwillig.
Einst waren die beiden unzertrennlich, doch inzwischen scheint Greta einfach
kein Verständnis mehr dafür zu haben, was June wichtig ist.
Nach kurzer Zeit stirbt Finn an AIDS. Auf der Beerdigung sieht June einen
Mann, der sich bewusst im Hintergrund hält und dem ihre Familie deutlich zeigt,
dass er unerwünscht ist. Greta scheint mehr über das Warum zu wissen, nur June
ist nicht eingeweiht. Ich konnte ihren Wunsch verstehen, mehr darüber
hinausfinden zu wollen, gleichzeitig ihre Unsicherheit, auf einen Fremden
zuzugehen.
Als es schließlich zu einem Gespräch mit ihm kommt erhält sie ein ganz
neues Bild von ihrem Patenonkel Finn, der für sie so wichtig war. Wieso hat er
ihr so viele entscheidende Dinge über sein Leben verschwiegen? Eine Erkenntnis
ist für sie besonders schmerzhaft: Die wichtigste Person in Finns Leben kannte
sie gar nicht. June empfindet Toby, dem Fremden, gegenüber Skepsis und Neid.
Doch mit jeder neuen Information, die sie erhält, wandelt sich langsam ihr Bild.
Ist Toby die Hilfe, die sie braucht? Oder machen ihre Gespräche mit ihm alles
nur noch schlimmer?
Das Thema AIDS war in den 80ern, in denen das Buch spielt, noch relativ
neu. Es gab zahlreiche Spekulationen, wie genau man sich anstecken kann,
dementsprechend groß war die Angst vor dieser unbekannten Krankheit und man
ließ im Umgang mit Erkrankten Vorsicht walten. Auch ein Coming-Out war noch
sehr viel heikler als heute. Das Buch setzt sich damit intensiv und gelungen
auseinander.
Besonders kostbar für June sind ihre bittersüßen Erinnerungen an
Momente mit Finn. Die beiden haben sich bei ihrem gemeinsamen Ausflügen zum
Beispiel immer auf besondere Dinge in ihrer Umgebung aufmerksam gemacht und
hatten bestimmte Orte wie The Cloisters, die sie immer wieder besucht haben.
Eine wichtige Rolle spielt auch die Beziehung von June zu ihrer Schwester.
Greta bietet ihr immer wieder gemeinsame Unternehmungen an, zeigt ihr dann aber
doch wieder die kalte Schulter. Es ist keine leichte Zeit für die beiden
Schwestern, die nicht wissen, ob sie einander lieben oder hassen sollen. Das
Portrait der von ihnen, das Finn angefertigt hat, wird schließlich auf
überraschende Weise zu einem Schlüsselelement.
„Sag den Wölfen ich bin zu Hause“ erzählt auf behutsame und berührende
Weise von June, die ihren geliebten Patenonkel an AIDS verliert. Als Leser
konnte ich Junes Gefühle gut nachvollziehen – ihre Trauer, ihre Unsicherheit
dem Fremden gegenüber, der Finn so gut zu kennen schien, und ihre
Entschlossenheit, sich nicht ohne Erklärung zufrieden zu geben. Das Buch
thematisiert einfühlsam die Bedeutung von
Familie und Freundschaft auf verschiedenen Ebenen und stimmte mich nachdenklich
in Bezug auf die Frage, was es auslösen kann, Dinge zu verschweigen. Gedanklich
wird mich die Geschichte sicherlich noch länger begleiten. Für mich ist sie ein
Lesehighlight, das ich klar weiterempfehle.
Sag den Wölfen, ich bin zu Hause
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Sag den Wölfen, ich bin zu Hause
Autorin: Carol Rifka Brunt
Übersetzerin: Frauke Brodd
Hardcover: 488 Seiten
Erschienen am 23. Februar 2018
Verlag: Eisele
Link zur Buchseite des Verlags
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