„Die Geschichte des verlorenen Kindes“ ist der vierte und
abschließende Band einer Romanserie von Elena Ferrante, die sich rund um die
Freundschaft der inzwischen 66-jährigen Ich-Erzählerin Elena und ihrer
gleichaltrigen Freundin Raffaella dreht. Die Erzählung umfasst die beiden Teile
„Reife“ und „Alter“ sowie einen Epilog. Das Buch beginnt mit Elenas Rückblick
auf die Zeit Ende der 1970er Jahre, in denen ihre Ehe scheiterte und sie
schließlich zum Schreiben nach Neapel zurückkehrte. Der Titel des vierten Teils
verhüllt ein tragisches Geheimnis, das erst nach etlichen Seiten im Buch
gelüftet wird. Wieder ist der Geschichte ein Verzeichnis der handelnden
Personen mit einer Kurzfassung zu den bisherigen wichtigsten Ereignissen vorweg
gestellt. Dennoch entfaltet sich der volle Lesegenuss nur bei Kenntnis der
vorigen Bände. Die Übersetzung von Karin Krieger ließ die Handlung für mich bis
ins Detail verständlich werden.
Elenas Ehe steckt in der Krise seit aus ihrer
Jugendschwärmerei Liebe geworden ist, die erwidert wird. Nach vielen
Auseinandersetzungen mit ihrem Ehemann Pietro zieht sie schließlich mit ihren
beiden Kindern in eine Wohnung, die ihr Geliebter ihr in Neapel gemietet hat in
einer ansehnlichen Gegend. Inzwischen ist aus Lila, wie sie Raffaella seit
Kindertagen nennt, eine erfolgreiche Unternehmerin geworden. Lila hat den
Rione, die Gegend Neapels in der sie lebt, nie verlassen. Bei ihren Besuchen
nimmt Elena die Spannungen dort wahr, die durch die kriminellen Organisationen
des Viertels hervorgerufen werden.
Im Laufe der Zeit erfährt sie immer mehr über das geheime
Leben ihres Geliebten. Zwar wird sie als Autorin auch weiterhin wahrgenommen,
aber für einen weiteren neuen längeren Roman hat sie keine guten Einfälle. Sie
möchte gerne unabhängig leben, jedoch verschlechtert sich ihre finanzielle
Situation zunehmend. Als ihr ein Vorschuss zu einem Roman angeboten und eine
erste Abgabefrist gesetzt wird, fällt ihr der Entwurf zu einer Geschichte ein,
die sie vor Jahren geschrieben hat und die im Rione spielt. Um die Erzählung zu
überarbeiten nimmt sie den Vorschlag von Lila an, in die Wohnung über ihr zu
ziehen, auch damit die Umgebung auf sie wirken kann. In den folgenden Jahren
unterstützen sich die Freundinnen gegenseitig in der Betreuung ihrer Kinder bis
eines davon verloren geht.
Bereits am Ende des dritten Bands deutete sich an, dass
Elena mit ihrem Leben nicht zufrieden ist. Nun sucht sie zu Beginn es
abschließenden Teils den direkten Vergleich mit Lila in einem ständigen Kampf um
den Vorrang, der durch Kriterien bestimmt wird die alleine Elena festlegt und
bei denen finanzielle Unabhängigkeit und Ansehen weit oben stehen. Obwohl beide
Frauen so unterschiedliche Wege eingeschlagen haben, möchte Elena ihrer
Freundin vor allem als gute Mutter in nichts nachstehen, an einer
entsprechenden Kritik durch Lila reibt sie sich auf. Doch von ihrer neuen Liebe
lässt sie dennoch nicht ab, obwohl sie die Nachteile für ihre Töchter sieht. Sie
genießt die neue Zuwendung und ignoriert alle gutgemeinten Ratschläge.
Lila hat sich inzwischen ein Netzwerk an Seilschaften
geschaffen, die sie und ihr Unternehmen stützen, um damit in einer Welt der
Korruption zurecht zu kommen. Sie scheut sich nie, ihrer Freundin die Realität
nahe zu bringen. Von Elena wird das skeptisch gesehen und sie ist sich nie
sicher, ob Lila ihr mit ihren Aussagen nicht schaden möchte. Nach einem schweren
Erdbeben, das die Freundinnen erleben, findet Lila Worte für ihre Empfindungen,
die nicht nur ihre Freundin berühren und wodurch ich neben Elena einen
ungeschönten Blick auf Lila werfen konnte. Sie ist keine Konstante in ihrer
Welt, sondern ängstigt sich davor durch nicht voraussehbare Variablen ins
Trudeln zu geraten und die selbst geschaffene Sicherheit zu verlieren.
In ihrer Zeit in Neapel geben die Freundinnen sich
gegenseitig Kraft und Halt, während dabei sowohl Stolz als auch Neid
aufeinander, Hass und Verständnis zum Tragen kommen. Mit dem vierten Band
konnte ich nochmals tief in Elenas und Lilas Gefühlswelt eintauchen und mit
ihnen Höhen und einen besonders schweren Schicksalsschlag erleben. Der Epilog
schließt den Kreis zum Prolog der Serie. Elena Ferrante hat mit ihrer
Romanreihe ein Stück unvergessliche Literatur geschaffen, dem ich meine
uneingeschränkte Leseempfehlung gebe.
Rezension Band 1: Meine geniale Freundin -> Link
Rezension Band 2: Die Geschichte eines neuen Namens -> Link
Rezension Band 3: Die Geschichte der getrennten Wege -> Link
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Titel: Die Geschichte des verlorenen Kindes (Band 4)
Autorin: Elena Ferrante
Übersetzerin: Karin Krieger
Erscheinungsdatum: 02.02.2018
Verlag: Suhrkamp (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag und Leseband