„Engele“ ist der Debütroman von Claudia Tieschky. Der Titel
ist dem Nachnamen von Siegfried, dem Großvater der Protagonisten Lotte, entlehnt.
Lotte sucht nach Freiheit und scheut jede feste Bindung. Bereits das Buchcover
vermittelte mir ein kleines Stück dieses Wunsches mit dem Blick der
abgebildeten Figur in den endlos wirkenden Himmel.
So ähnlich wie sie schaut nun zu Beginn des Romans Lotte in
einem Berliner Hotelzimmer in die Dunkelheit der Nacht, hinter ihr im Bett
liegt Frieder, der geliebte Mann. Lotte ist Journalistin und wohnt in München.
Mit Frieder trifft sie sich in unregelmäßigen Abständen in Berlin. Die Stadt
verbindet sich für beide im Laufe der Zeit mit der Liebe, Lotte verbindet damit
aber auch die aufregenden Jahre ihrer Großmutter Ruth, zu der ihre Gedanken
schweifen, während sie in den Nachthimmel schaut. Frieder und Lotte erzählen
sich gerne Geschichten, die den anderen überraschen, wahrscheinlich, um das
Schweigen zwischen ihnen zu überbrücken und nicht von sich und ihrem Alltag
erzählen zu müssen. Lotte beschließt, ihre Erinnerungen an Ruth zu teilen.
Ruth kam als junge Frau 1936 auf der Suche nach
Unabhängigkeit nach Berlin und ging dort einer Anstellung als Kinderpflegerin
im Krankenhaus von Virchow nach. In ihrer Freizeit frönte sie dem Laster.
Zigaretten, Alkohol und Liebeleien gehören für sie zu ihrer Vorstellung von
Freiheit. Sie gibt sich mondän und genießt ihr Leben in vollen Zügen, bis sie 1942
den einige Jahre älteren Siegfried trifft. Er ist Offizier, aber gleichzeitig
auch Musiker und angehender Komponist. Einige Zeit nach der Geburt von Clara,
der Mutter von Lotte, ziehen sie wegen des Kriegs in die Heimat von Siegfried
in den Süden Deutschland. Ruth arrangiert sich mit den veränderten
Verhältnissen und lebt nun eine andere Art von kleinem Glück, bis dieses jäh
beendet wird, als Siegfried ein Verbrechen begeht.
Die Autorin hat sich von ihrer
eigenen Familiengeschichte zu diesem Roman inspirieren lassen. Mit großem
Einfühlungsvermögen erzählt sie ihre Geschichte so, dass sie realistisch
erscheint. Obwohl die Erzählung durch die gedanklichen Sprünge von Lotte, die
sich zu verschiedenen Zeiten an unterschiedlichen Orten erinnert, stückweise
erzählt wird, ergibt sie ein zusammenhängendes Bild. Sah ich zunächst noch mit
Ruth eine junge Frau mit Zöpfen und Koffer am Bahnhof ihrer Heimat stehen auf
dem Weg nach Berlin, so zog ich im Folgenden Anfang der 1970er mit ein in das
neue Einfamilienhaus von Claras kleiner Familie und landete wieder in der
Gegenwart an Lottes Seite.
Claudia Tieschky distanziert sich an
einigen Stellen bewusst von ihrer Protagonistin, scheinbar ordnend, um den
Augenblick zu vergegenwärtigen und dann wieder in die Gedankenwelt von Lotte
einzusteigen. Mehrfach sucht Ruths Enkelin nach Gründen, warum sie ausgerechnet
jetzt dem Leben ihrer Großmutter nachgeht. Immer mehr wird ihr bewusst, wie
stark sie von ihr geprägt wurde. Allein aus Erzählungen macht sie sich ein Bild
von ihr, das stark geprägt ist von Willenskraft und Selbstbewusstsein, aber
auch Hartnäckigkeit verbunden mit klaren Ansagen. Fotos zeigen ihren Hang zum
Besonderen, das jedoch im Zeitablauf an Extravaganz verloren hat. Lotte kann
sich selbst aber noch an das gebliebene Durchsetzungsvermögen erinnern.
Clara wirkt im direkten Vergleich mit
Ruth farblos, möglicherweise weil sie dadurch gegen ihre Mutter und deren
Verhalten rebelliert. Ist Lotte zunächst nicht bewusst, warum Clara das tut, so
wird ihr der Grund später klar. Der Schlüssel dazu ist Siegfried. Er bietet ihr
eine finanzielle Absicherung. Sein Verstoß gegen Anstand und Gesetz lässt Ruths
Arrangement mit dem gesitteten Leben einer Ehefrau platzen und neue Wesenszüge
auftreten. Sie wird zu der Frau, an die Lotte sich erinnert und mit der sie
sich nun vergleicht.
„Engele“ ist ein Roman über drei auf
ihre ganz eigene Weise starke Frauen, deren Leben eng miteinander verknüpft sind. Er spielt vor den realen geschichtlichen Begebenheiten und bildet ganz
nebenbei ein Bild unserer Gesellschaft ab. Von Beginn an lauert im Hintergrund
das Unbegreifliche, dem ich mich an der Seite von Lotte zaudern näherte. Die
Folgen, mit denen Ruth all die Jahre gelebt hat, drückt diese immer wieder
durch ein Abgleiten ins Vulgäre aus. Die Erzählung wird dadurch lebendig und aufwühlend.
Eine unerwartete Wendung sorgt für einen furiosen Abschluss des Romans. Leise
Töne, Kraft und Ausdruck vereinen sich hier zu einer wunderbaren Geschichte,
die ich gerne weiterempfehle.
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Titel: Engele
Autorin: Claudia Tieschky
Erscheinungsdatum: 13.03.2018
Verlag: Rowohlt Berlin (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Leseexemplar im Taschenbuchformat