Rezension von Ingrid Eßer
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Titel: Luftgänger
Autor: Jewgeni Wodolaskin
Übersetzerin: Ganna-Maria Braungardt
Erscheinungsdatum: 15.03.2019
Verlag: Aufbau (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag und Leseband
ISBN; 9783351037048
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Ein vereister See mitten in einem verschneiten Wald als
Titelbild des Romans „Luftgänger“ von Jewgeni Wodolaskin spiegelt die Kälte und
Einsamkeit wieder, die der Protagonist Innokenti Petrowitsch Platonow in seinen
jungen Jahren erfahren hat. Als Kind hat er mit seinem Cousin Sewa Drachen
fliegen lassen und sich für die Aeronautik interessiert. Gerne hätte er sich
vom Aufwind tragen lassen und wäre durch die Luft gegangen. Er war derjenige,
der lenkte, Sewa stand hinter ihm. Doch wie sich später in der Geschichte herausstellen
wird, hat sein Cousin in einer wichtigen Situation eine Entscheidung getroffen,
die seinen weiteren Lebensweg maßgeblich beeinflusst.
Platonow, etwa dreißig Jahre alt, erwacht im Krankenhaus aus
der Bewusstlosigkeit. Geiger, der behandelnde Arzt, stellt sich ihm vor und
fragt ihn nach seiner Erinnerung. Obwohl ihm die Frage seltsam erscheint,
stellt er fest, dass er sich nur an Unbedeutendes erinnert. Schrittweise kehren
Szenen und Eindrücke zurück an eine Zeit der ersten Jahrzehnte im letzten
Jahrhundert: Eine Kindheit in St. Petersburg zur Zarenzeit, eine erste
aufkeimende Liebe während des Russischen Bürgerkriegs und schließlich der
Aufenthalt im Straflager auf den Solowki-Inseln. Obwohl sein Umfeld sorgsam
vorbereitet wurde, bleibt ihm nicht lange verborgen, dass Jahrzehnte seitdem
vergangen sind. Geiger bestätigt ihm, dass inzwischen das Jahr 1999 geschrieben
wird. Nach und nach löst sich im Folgenden durch weitere Erinnerungen das
scheinbare Paradoxon langsam auf.
Schon bald nach Beginn der Erzählung wurde mir genauso wie
dem Ich-Erzähler Platonow bewusst, dass es etwas Störendes zwischen den
Erinnerungen und dem Erwachen als junger Mann in der Gegenwart gibt. Bis zur
Auflösung verblieb eine gewisse Spannung im Hintergrund. Deutlich überlagert
wurde sie jedoch von der bewegenden und berührenden Geschichte des
Protagonisten. Mit der zunehmenden Rückkehr seiner Erinnerungen erfuhr ich als
Leser immer mehr über seine Kindheit, Jugendzeit, als Student und schließlich
als Strafgefangener. Gleichzeitig beginnt seine Rekonvaleszenz im Jahr 1999,
die verbunden ist mit einer schrittweisen Rückkehr in den Alltag. Noch während
Platonow um seine Gesundheit kämpft, holt die Vergangenheit ihn ein. Er erlebt
eine Begegnung auf die er nicht zu hoffen gewagt hat und die bei mir unterschiedliche
Gefühle auslöste. Ich habe mich für Platanow gefreut, war aber auch erstaunt
und habe ihn in der Situation aus bestimmten Gründen ebenfalls ein wenig
bemitleidet. Zum Schluss habe ich jedoch vergeblich darauf gewartet zu
erfahren, was aus denjenigen wurde, die ein ähnliches Schicksal wie Platonow erlitten
hatten.
Der Roman besteht aus zwei Teilen. Im ersten Romanabschnitt
hält der Protagonist in Tagebuchform die für ihn wichtigsten Gedanken fest. Im
zweiten Teil schreiben auch zwei Bezugspersonen der Hauptfigur ein Tagebuch.
Die Fassungen der drei verschiedenen Personen verschmelzen immer mehr. Dadurch
wird deutlich, dass die Vergangenheit Platonows nicht nur ihn, sondern ein
ganzes Land betrifft. Seine Erlebnisse stehen stellvertretend für viele und
sollen nicht in Vergessenheit geraten. Sein Leben zeigt, dass nicht immer die
Pläne derjenigen überleben, die die Macht innehaben. Doch Alternativen dazu
sind fragil, unbekannt und stoßen daher auf Befremdung. Am Ende bleiben einige
Fragen offen.
„Luftgänger“ von Jewgeni Wodolaskin ist eine emotional ergreifende
Erzählung, die in die wechselhafte Geschichte des Russlands zu Beginn des 20.
Jahrhunderts führt. Die Gestaltung der Schilderung ist außergewöhnlich und daher
besonders lesenswert. Gerne empfehle ich das Buch weiter.