Rezension von Ingrid Eßer
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Titel: Am Tag davor
Autor: Sorj Chalandon
Übersetzerin: Brigitte Große
Erscheinungsdatum: 18.04.2019
Verlag: dtv (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag und Leseband
ISBN: 9783423281690
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Michel und sein 14 Jahre älterer Bruder Joseph Flavent sind
die Protagonisten des Romans „Am Tag davor“. Der Autor des Buchs, der Franzose
Solj Chalandon lässt Michel in der Ich-Form seine Geschichte in der Gegenwart mit
Rückblick auf seine Jugend erzählen, während Joseph bereits vor vielen Jahren
verstorben ist. Noch am Tag vor dem großen Grubenunglück in Liévin am
27.12.1974 brausten die Brüder auf dem Moped von Joseph durch die Straßen der
kleinen Stadt bis zur Steinkohlenzeche, in der der Ältere arbeitete.
Joseph hatte sich dagegen entschieden, den Bauernhof des Vaters zu übernehmen. Am nächsten Morgen war er für die Frühschicht eingeteilt. Michel übernachtete zu dieser Zeit einige Tage in der Wohnung seines Bruders, doch als er erwachte war seine Schwägerin nicht da. Eine seltsame Stille lag über dem Ort, denn die Förderung wurde aufgrund des Unglücks in der Zeche eingestellt. Doch Joseph gehörte nicht zu den Toten. Die Familie besucht den Verletzten, im Koma liegenden Sohn, Bruder und Ehemann im Krankenhaus. Er stirbt etwa vier Wochen später. Immer wieder weist der Autor auf den Umstand hin, dass Joseph nicht die Ehrerbietung erfährt wie die anderen Verstorbenen des Grubenunfalls. Für Michel wird die vom Vater gewünschte Rache für das Unglück fortan zum Lebenszweck.
Joseph hatte sich dagegen entschieden, den Bauernhof des Vaters zu übernehmen. Am nächsten Morgen war er für die Frühschicht eingeteilt. Michel übernachtete zu dieser Zeit einige Tage in der Wohnung seines Bruders, doch als er erwachte war seine Schwägerin nicht da. Eine seltsame Stille lag über dem Ort, denn die Förderung wurde aufgrund des Unglücks in der Zeche eingestellt. Doch Joseph gehörte nicht zu den Toten. Die Familie besucht den Verletzten, im Koma liegenden Sohn, Bruder und Ehemann im Krankenhaus. Er stirbt etwa vier Wochen später. Immer wieder weist der Autor auf den Umstand hin, dass Joseph nicht die Ehrerbietung erfährt wie die anderen Verstorbenen des Grubenunfalls. Für Michel wird die vom Vater gewünschte Rache für das Unglück fortan zum Lebenszweck.
Der Roman teilt sich in zwei Erzählstränge. Etwa bis zur
Hälfte der Seitenzahlen erzählt Michel vom Tod seines Bruders und dem sich für
ihn daraus ergebenden lebenslangen Sinnen nach Rache. Daneben liest sich aus
den Zeilen aber auch die Traurigkeit über einen weiteren schweren Verlust. Im
zweiten Erzählstrang erzählt Michel vom Prozess der ihm gemacht wird, nachdem
er endlich der Verpflichtung seinem Vater gegenüber nachgekommen ist und Rache
genommen hat. Das klingt zunächst nach einer gradlinigen Abfolge von
Ereignissen, die zu einem schlüssigen Ende führt. Doch so einfach macht der
Autor es dem Leser nicht. Denn Michel trägt eine große Schuld mit sich, deren
Begreifen sich für den Leser erst zum Ende hin öffnet.
Zu Beginn erlebte ich Michel als Teenager mit großen Träumen
für seine Zukunft. Doch sein Leben ist geprägt von der Angst der Eltern vor der
Grubenarbeit in der Zeche, denn sie haben ein Familienmitglied dadurch
verloren. Für Michel aber hat Joseph Vorbildcharakter. Wer sich mit der Arbeit
eines Bergmanns unter Tage beschäftigt weiß, dass hier Kameradschaft gelebt
wird und hierin ein hoher Anreiz zu finden ist. Dabei wird die Gefahr für die
Gesundheit häufig verdrängt und doch quälten sich viele und starben früher oder
später auch oft an der sogenannten Staublunge. Bei beiden meiner Onkel, die im
Steinkohlenabbau gearbeitet haben, war das ebenfalls so. Das Thema stellt Sorj
Chalandon in den Vordergrund und zeigt mit dem Unglück was passiert, wenn ein
Kumpel aus der Solidaritätsgemeinschaft ausweicht. Eindringlich betont er, dass
Nachlässigkeiten nicht mehr zu heilen sind und eine ganze Stadt in Verzweiflung
stürzen kann. Für Michel trägt seine Umgebung überall die Erinnerung an seinen
Bruder, so dass er bereits in jungen Jahren die Heimat verlässt.
Gefühlsmäßig noch intensiver erlebte ich die Gerichtsverhandlung,
bei der ich die Gründe für Michels Handlungen im weiteren Verlauf der
Geschichte nach dem Grubenunglück immer besser verstehen lernte und ihm immer
tiefer ins Herz blicken durfte.
Solj Chalandon gelingt es mit „Am Tag davor“ ein
historisches Ereignis von großer allgemeiner Bedeutung mit einem fiktiven
Einzelschicksal gekonnt zu verknüpfen. Dabei überrascht er den Leser mit einer
unerwarteten Wendung durch die seine Erzählung eine ganz andere Richtung nimmt.
Sein Roman ist bewegend, erschütternd und wirkt noch lange nach.