Rezension von Ingrid Eßer
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Titel: Über alle Grenzen - Roman nach einer wahren Geschichte
Autorin: Hera Lind
Erscheinungsdatum: 22.04.2019
Verlag: Diana (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN: 9783453291881
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In ihrem Roman „Über alle Grenzen“ hat Hera Lind auf die ihr
eigene Weise Lebensgeschichten für den Leser lebendig werden lassen. Zwar heißt
es im Untertitel „Roman nach einer wahren Geschichte“, doch eigentlich müsste
es heißen „Roman nach zwei wahren Geschichten“, denn die Autorin hat hier zwei
unabhängige Schicksal geschickt miteinander verknüpft. Beide Geschichten wurden
ihr von Frauen erzählt, die ihren geliebten Bruder verloren haben, die aus der
ehemaligen DDR geflohen sind. Mit weiteren Ergänzungen aus ihr bekannten
Schilderungen über das Leben im damaligen Ostdeutschland und ihrer Fantasie
rundet sie das Erlebte der beiden Frauen ab zu einer berührenden Geschichte
über das überwachte Leben einer parteilosen Familie mit Westkontakt in der DDR
und dem heutigen Pflegenotstand in ganz Deutschland. In den Vordergrund stellt
Hera Lind die fiktive Ich-Erzählerin Lotte, die sozusagen eine Klammer zieht um
die beiden Lebensgeschichten.
Lotte, ihr zwei Jahre älterer Bruder Bruno und ihre drei
Schwestern ziehen gemeinsam mit den Eltern im Jahr 1959 von Bayern nach Erfurt,
wo der Vater eine Stelle als Zoodirektor antritt. Das Leben der Familie ist
glücklich, bis 1961 die Mauer gebaut wird und eine Rückkehr nach Bayern damit
unmöglich wird. Bruno ist musikalisch sehr talentiert und erhält die
Gelegenheit zu einigen Auslandreisen mit dem Orchester, dem er angehört. Mit
steigendem Entsetzen beobachtet er die zunehmende Verminung in den
Grenzgebieten. Obwohl Bruno inzwischen verheiratet ist und einen Sohn hat,
flieht er in einer spontanen Aktion in den Westen und hofft darauf, dass auch
seiner Frau und seinem Kind schon bald die Flucht gelingen wird. Die folgenden
Jahre sind geprägt von den Ressentiments gegen Brunos gesamte Familie im Osten.
Erst viele Jahre später gelingt es Lotte, den Bruder wieder zu finden, der sich
die Schuld an der Misere seiner Familie gibt und sich daher vollständig von
seiner Familie zurückgezogen hat. Er ist geprägt von seiner Alkoholsucht und
vegetiert mehr oder weniger in einem Pflegeheim im Norden. In der Folgezeit
setzt sie alle Hebel in Bewegung, ihm ein Leben in Würde zu ermöglichen.
Erst die beiden kurzen Stellungnahmen der Frauen, die das
Geschilderte tatsächlich erlebt haben, brachte mir die Möglichkeit die zwei
Erzählungen zuordnen zu können. Der Roman liest sich in einem Zug, obwohl die
Autorin in den Kapiteln immer wieder die Zeitebene wechselt und einerseits von
Lottis Leben im damaligen Osten Deutschlands erzählt und andererseits von ihrem
Bemühen um ein menschenwürdigen Leben für den Bruder im Pflegeheim in der
Gegenwart. Dadurch entstehen einige Cliffhanger. Mit großem Einfühlungsvermögen
beschreibt Hera Lind Bruno und die anderen Familienmitglieder, die sie selber
nicht kennenlernen konnte. Sie selbst wuchs so wie ich in Nordrhein-Westfalen
auf. Meine Familie hatte immer Kontakte in den Osten. Nach meinem Wissen und
ihren Beschreibungen konnte ich mir das Leben in der DDR gut vorstellen. Die
gewählte Ich-Form für Lotte brachte mir ihre Gefühle näher. Bewegt las ich über
das Bangen und Hoffen der Familienmitglieder in vielen Situationen.
Mit den Schilderungen über den gealterten Bruno und seiner
Pflegebedürftigkeit legt die Autorin den Finger in die Wunde unserer heutigen
Gesellschaft, der es an Pflegekräften fehlt und die benötigte Zeit für viele
Verrichtungen nach Schema abgehandelt werden muss. Das Fehlen des
Zwischenmenschlichen und der Wärme im Umgang miteinander tritt dahinter nahezu
vollständig zurück.
Wieder einmal gelingt es Hera Lind aus tatsächlichem
Geschehen, diesmal sogar aus den Erlebten zweier Frauen, einen aufwühlenden
interessanten Roman vor dem Hintergrund der Deutsch-Deutschen-Geschichte zu
gestalten. Sie zeigt auf, zu welchen Handlungen die Liebe unter Geschwistern
und zu den Eltern fähig ist. Gerne empfehle ich diese lesenswerte Buch weiter.