Rezension von Ingrid Eßer
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Titel: Hier sind Löwen
Autorin: Katerina Poladjan
Erscheinungsdatum: 26.06.2019
Verlag: S. Fischer (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN: 9783103973815
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„Hic sunt leones“ (lat.), ins Deutsche übersetzt „Hier sind
Löwen“ wurde früher von den Römern auf die Bereiche einer Landkarte
geschrieben, die außerhalb des römischen Reiches lagen. Dort war für sie
unbekanntes Gebiet auf dem ihre Gesetze keine Geltung hatten und der Aufenthalt
risikoreich war. „Hier sind Löwen“ heißt auch Katerina Poladjans Roman, in dem
sie von Helene Mazavian erzählt, einer deutschen Buchrestauratorin die beruflich
nach Jerewan fliegt, der Hauptstadt Armeniens. Für Helene ist es eine Reise
entsprechend des Titels ins Neuland. Eigentlich freut sie sich nur darauf,
weitere Kenntnisse und Fertigkeiten im Job zu erlangen, doch für sie führt die
Fahrt auch zu ihren familiären Wurzeln und in die Vergangenheit Armeniens.
Ihr Vor- und Nachname ist Helene bisher nicht wichtig
gewesen. Von Freunden wird sie Helen gerufen, von ihrer Mutter Lena, mit den
Abwandlungen ihres Namens hat sie in Kinderjahren gespielt. Ihren Nachnamen hat
sie von ihrer Mutter, die armenischer Abstammung ist. Aufgrund seiner Phonetik fällt
er in Deutschland auf. Bei ihrer Ankunft in Jerewan reiht sich ihr Name in den
Klang der Sprache ein, was bei ihr ein gutes Gefühl auslöst. In den Werkstätten
des zentralen Archivs für armenische Handschriften kommt ihr die Aufgabe zu,
ein Evangeliar aus dem 18. Jahrhundert zu restaurieren. Bei diesem Erzählstrang
lässt Katarina Poladjan ihre profunden Kenntnisse über Buchbinderei immer
wieder einfließen. Helen versieht ihre Arbeit mit Achtung gegenüber dem Buch. Zwar
versteht sie kein Armenisch, doch die Ausgestaltung des Textes zieht sie immer
mehr in ihren Bann. In Helens Gedanken entsteht eine Geschichte um ein armenisches
Geschwisterpaar in der Zeit der Massaker und Todesmärsche des Jahres 1915, die das
Buch auf ihrer Flucht im Gepäck haben.
Helen ist die Tochter einer Künstlerin. Als sie noch ein
Kind war, hat ihre Mutter ihre Spielsachen in ihre Kunst eingearbeitet und so
versucht, ihren Bildern mehr Tiefe zu geben und sie zum Betrachter sprechen zu
lassen. Helen nimmt diesen Spirit mit in ihre eigene Arbeit. Mit dem Restaurationsgegenstand
in ihren Händen formen sich Bilder in ihrem Kopf über dessen Gebrauch und
Nutzen. Durch eine Randnotiz im Evangeliar verbindet die Autorin die Zeitebene
der Gegenwart mit derjenigen der Vergangenheit. In eingeschobenen Kapiteln
erzählt sie in bewegender Weise von der Flucht des armenischen Jungen Hrant,
der erst sieben Jahre alt ist, und seiner einige Jahre älteren Schwester Anahid,
die die einzig Überlebenden ihrer Familie sind. Bei ihrer Flucht vor Deportationen
haben sie das Buch im Gepäck.
Von ihrer Mutter hat Helen ein Familienbild aus den 1950ern vor
der Reise erhalten mit dem Wunsch, nach den darauf abgelichteten Verwandten zu
suchen. Statt sich nur dem Erlernen der besonderen armenischen Buchbindekunst zu
widmen, beginnt sie aufgrund des Bilds und des Evangeliars, sich für die
Geschichte des Landes zu interessieren. Immer stärker wird ihr bewusst, welches
Leid die Bewohner im vergangenen Jahrhundert erfahren haben, das bis heute
nachhallt. Spätestens jetzt interessierte ich mich für die Geschichte Armeniens
und warum die Armenier in großer Zahl verfolgt, ausgewiesen und getötet wurden.
In Armenien erlebt Helen so viel Neues, Ungewohntes, dass sogar
ihr Lebensgefährte in Deutschland für sie in den Hintergrund tritt. Ihre
Neugier treibt sie dazu, Grenzen auszuloten und sich auf Unbekanntes
einzulassen. Die Autorin schaffte es, die Empfindungen ihrer Protagonistin an mich zu
übermitteln. Nicht nur durch das Fremde ist Helen von einer Unruhe ergriffen, sondern
auch von den Gefühlen zu einem Mann, über deren Tiefe sie sich nicht im Klaren
ist und die für sie nicht vergleichbar sind. Deutlich spürte ich den Zwiespalt
in ihr, die richtigen Entscheidungen in Bezug auf ihre Zukunft zu treffen.
Katerina Poladjan nahm mich in ihrem Roman „Hier sind Löwen“
mit nach Armenien. Ihre Protagonistin und Ich-Erzählerin Helen entwickelt sich durch
das Erlernen einer neuen Bindetechnik eines Buchs nicht nur beruflich weiter,
sondern nähert sich durch die Beschäftigung mit Land und Leuten auch ihren
eigenen Wurzeln. Durch die Begegnung mit der Fremde und dem Vergleich mit ihren
bisherigen Wertvorstellungen erfährt sie mehr über sich selbst. Die Schilderungen
der Autorin berührten mich und von den Erlebnissen des armenischen Geschwisterpaars
in der Nebenhandlung war ich erschütternt. Gerne bin ich an der Seite Helens in
die Geschichte Armeniens eingetaucht und empfehle daher den Roman weiter.