Rezension von Ingrid Eßer
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Titel: Die Leben der Elena Silber
Autor: Alexander Osang
Erscheinungsdatum: 14.08.2019
Verlag: S. Fischer (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag und Leseband
ISBN: 9783103974232
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Mit dem Roman „Die Leben der Elena Silber“ von Alexander
Osang näherte ich mich beim Lesen der möglichen Wahrheit über den Lebensweg der
im russischen Gorbatow geborenen Jelena Viktorowna Krasnowa. Bereits der
Umschlag deutet an, dass so ein erzähltes Leben sich aus vielen Bildern, die da
im Kopf hängen bleiben, zusammensetzt. Jelena, Elena, Lena, je mehr Buchstaben
ihr Vornamen verliert, desto mehr Menschen verliert sie, die ihr bisher Halt gegeben
haben, denen sie vertraut hat und von denen sie hilfreich unterstützt wurde.
Den Blick immer auf die Zukunft gerichtet, umschifft sie viele Hindernisse. Die
Sorge um ihre Familie begleitet sie ständig, durch die politischen Wirrungen
des letzten Jahrhunderts muss sie sich immer wieder anpassen. Dennoch ist sie
nicht die einzige Protagonistin des Romans, ihr Enkel Konstantin ist eine
weitere Hauptfigur.
Jelena wird Anfang des vorigen Jahrhunderts geboren. Im
Alter von zwei Jahren wird ihr erzählt, dass ihr Vater, Seiler von Beruf und Vertreter
der Meinung der Landbevölkerung, von Beamten der Stadt hingerichtet wurde, weil
er auf der Seite derjenigen stand, die über Anweisungen des Zaren gelästert
hatten. Um weiteren Übergriffen zu entgehen, flieht die Mutter mit Jelena und ihrem
Sohn nach Nischni Nowgorod.
Im Sommer des Jahres 2017 kehrt der Filmemacher Konstantin
Silber von einer Reise in die Ukraine zurück. Von seiner Mutter Maria erfährt
er, dass sein Vater aufgrund seiner Krankheit ins Heim ziehen wird, was für ihn
eine wenig vorstellbare Situation ist, denn damit verbindet er die Endlichkeit
des Lebens. Mit seiner beruflichen Karriere ist er unzufrieden und auf der
Suche nach einem das Publikum ansprechenden Thema.
Ausgehend von den beiden obigen Anfängen des Romans ergänzen
sich die Geschichten nun einerseits in der Gegenwart auf der Suche nach dem
Wahrheitsgehalt, andererseits in kontinuierlich fortschreitenden Szenen aus der
Vergangenheit. Eine Übersicht der wichtigsten Familienmitglieder auf den ersten
Seites des Buchs half mir dabei, die Charaktere namentlich und zeitlich besser einzuordnen,
auf den Innenseiten ist eine Landkarte mit den Handlungsorten gedruckt, die die
Reisen der Familie nachvollziehen lassen.
Jelena ist beim Pogrom an ihrem Vater selbst nicht anwesend,
aber sie spürt die Angst ihrer Mutter vor den Schergen, die größer ist als die
vor einem Neuanfang. Für Jelena ist dieser Tag ein strenger Einschnitt in ihr
Leben, dessen Bedeutung sie in ihrem kindlichen Alter noch nicht erfassen kann.
Sie entwickelt sich zu einer starken Frau. Die häusliche Umgebung ändert sich
örtlich für sie in den nächsten Jahren mehrfach. Durch ihren Beruf erlangt sie
Unabhängigkeit vom Elternhaus. Schließlich heiratet sie einen deutschen
Ingenieur, dem sie Mitte der 1930er Jahre nach Berlin folgt, als der Krieg
bereits seine langen Schatten voraus wirft.
Dem Autor gelingt es, ein fiktives Frauenschicksal über
Jahrzehnte hinweg ergreifend aufzuzeigen. Dabei ist seine Erzählung inspiriert
von seiner eignen Familiengeschichte. Seine Schilderung ist bewegend, aber
durch das Einflechten einiger heiterer Begebenheiten gelingt es ihm, seine
Erzählung stellenweise aufzulockern. Seinen Fokus richtet er auf die Menschen,
die das Schicksal tragen, dass ihnen durch die aktuelle politische Lage
vorgegeben scheint. Seine Protagonistin Jelena bekennt sich nie bewusst für
eine Richtung in der Politik, sie handelt, um sich selbst und ihre Liebsten zu
schützen. An der Seite ihres Mannes führt sie ein wohlsituiertes Leben, doch
auch hier stellt sie fest, dass sie durch Konventionen gebunden ist.
Nichtwissen wird für sie zuweilen zur Überlebensfrage. Schon früh stellt sie
fest, dass es häufig besser ist, Geheimnisse für sich zu behalten. In der
Kommunikation mit ihren Töchtern verlässt sie ihr Mut, denn die Erinnerungen an
bestimmte Dinge in ihrem Leben sind nahezu unbeschreiblich. Unzureichende
Sprachkenntnisse und dadurch fehlende Übersetzungsmöglichkeiten ergänzen die
mangelnde Kontinuität in Jelenas Erzählungen. Ganz im Innersten führt sie aber ständig
eine Liebe mit sich, aktuell oder vergangen, die ihr keiner nehmen kann.
Für Konstantin wird die Vergangenheit seiner Familie zu
einer Suche nach Details. Der Weg zurück zu seinen Wurzeln führt Konstantin in
die Seele des russischen Reichs. Dabei wird ihm zunehmend deutlich was ihm selber
wichtig ist.
Alexander Osang hat mit dem Buch „Die Leben der Elena
Silber“ einen bewegenden Familienroman geschrieben, der nicht nur das gesamte
Leben der Titelfigur umfasst, sondern auch noch das der nachfolgenden
Generation. Der Autor erzählt episodenhaft. Die Suche nach den fehlenden
Erzählteilen ist berührend und führt Jelenas Enkel Konstantin und mich als
Leser nicht nur zu den Verwicklungen in der Familiengeschichte, sondern auch zu
einem tieferen Verständnis für die Gefühle der Beteiligten, die mit der
Ohnmacht verbunden sind, das Gesehene und Erlebte in Worte zu kleiden. Gerne
empfehle ich diesen beeindruckenden Roman weiter.