Rezension von Ingrid Eßer
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Titel: Wilde grüne Stadt oder Im Labyrinth des entwurzelten Lebens
Autor: Marius Hulpe
Erscheinungsdatum: 19.08.2019
Verlag: Dumont (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen
ISBN: 9783832183677
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Der Roman „Wilde, grüne Stadt“ ist das Debüt von Marius
Hulpe und trägt den Untertitel „Im Labyrinth des entwurzelten Lebens“. Die
wilde grüne Stadt ist die westfälische Kreisstadt Soest. Hier spielt nicht nur
die Haupthandlung, sondern hier wurde auch der Autor geboren. Die Farbbezeichnung
im Titel bezieht sich darauf, dass viele Bauten der Stadt aus Grünsandstein
bestehen und dieser Stein recht weich und dadurch stark witterungsanfällig ist. Ich habe das bildlich auch in Bezug auf Clara, eine der Protagonisten gesehen. „Wild“ ist die Stadt, weil sie Menschen unterschiedlichster Herkunft und mit
verschiedenen Ideologien Heimat gibt und gerade dieser Umstand bildet den
Hintergrund für die Erzählung. Marius Hulpe zeigt, wie das Leben selbst auf
vielfache Weise den Einzelnen durch Konventionen und Missbrauch von Autorität in
ein Labyrinth führen kann, wie man sich dort aber auch durch ruhige, aber
permanente Rebellion scheinbar verirrt.
Clara, Reza und ihr gemeinsamer Sohn Niklas sind die
Protagonisten des Romans. Clara Matei ist in Soest geboren und aufgewachsen. Aufgrund
des fehlenden Stammhalters führt sie das Geschäft ihres Vaters als gelernte
Kürschnerin weiter. Anfang der 1970er Jahre wird sie von einem Ausländer
schwanger. Den einige Jahre älteren Reza kennt sie durch ihren Freundeskreis. Er
ist 1941 im Hamadaner Land im Iran geboren worden. Seine Familie hat ein Gut
und er ist dazu vorgesehen später den Besitz weiter zu verwalten. Ende der 1950er
widerspricht er in seiner Position als Unteroffizier seinem General. Als Strafe
für diesen Widerstand gegen den Willen des Volkes wird er nach Deutschland
entsandt, um dort nach seinem Abitur in Baden-Württemberg Agrarmaschinenbau in
Soest zu studieren.
Clara und Reza bekommen 1982 den gemeinsamen Sohn Niklas.
Reza ist zu dieser Zeit zum Politikstudium in Berlin. Sie führen eine lose
Beziehung, die Erziehung des gemeinsamen Sohns Niklas bleibt in den Händen von Clara.
Obwohl die drei Hauptfiguren zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen
Ländern aufwachsen, verbindet sie die Tatsache, dass sie auf ihre eigene Weise
nach Freiraum streben, um ihre Lebensträume umsetzen zu können.
Marius Hulpe erzählt seine Geschichte über einen Zeitraum
von mehr als fünf Jahrzehnten hinweg. Der Blick auf den jeweils im Mittelpunkt
stehenden Protagonisten wechselt meist von Kapitel zu Kapitel, gleichzeitig
wechselt dabei auch das Handlungsjahr. Der Autor erzählt nicht in
chronologischer Abfolge, sondern in kleinen Erzählstücken über bedeutsame Ereignisse
im Leben seiner Hauptfiguren.
Die Charaktere entwickeln sich über die Jahre hinweg weiter.
Jede von ihnen unterliegt bestimmten Erwartungen von Kindheit an. Während Reza
im Iran zum Gutsherrn erzogen wurde, erhofften sich Claras Eltern von ihrer
Tochter die Weiterführung des Geschäfts. Claras Verhältnis zu Männern ist meiner
Meinung nach, ein stiller Aufstand gegen die Verhaltensnormen der Soester
Kleinbürger, weil ihr der Mut zum offenen Widerstand fehlt und sie dennoch die Geborgenheit,
den Rückhalt durch die Familie schätzt. Die Schattenseite ihres Berufs wird Clara
durch Proteste immer deutlicher, findet sich dadurch aber auch in ihrer eigenen
Ansicht gestärkt.
Niklas wächst in einer, durch Claras Einflüsse liberalisierten
Umgebung auf, hat schon früh einen Berufswunsch und dennoch spürt er die alten
Konventionen. Allein sein dunkler Teint sorgt gelegentlich dafür, dass er ausgeschlossen
wird. Der Autor verführte mich aufgrund der Beschreibungen von sträflichen Handlungen
seines Vaters zu einem gedanklichen Transfer auf den Charakter des Sohns und
brachte mich so ins Grübeln über schnelle Rückschlüsse, Vorverurteilungen und ungerechtfertigte
Anforderungen.
„Wilde grüne Stadt“ ist nicht nur ein Roman über den Traum der
Selbstverwirklichung, sondern gewährt gleichzeitig einen Einblick in das soziale
Gefüge einer kleinen Mittelstadt. „Im Labyrinth des entwurzelten Lebens“ sind Clara,
Reza und Niklas auf der Suche nach einer Möglichkeit des Aufbrechens von althergebrachten
gesellschaftlichen Strukturen und Mustern. Gerne empfehle ich das Buch
uneingeschränkt weiter.