Rezension von Ingrid Eßer
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Titel: Kein Teil der Welt
Autorin: Stefanie de Velasco
Erscheinungsdatum: 10.10.2019
Verlag: Kiepenheuer & Witsch (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag und Leseband
ISBN: 9783462317312
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Das Buch „Kein Teil der Welt“ von Stefanie de Velasco ist
ein Coming-of-Age-Roman vor einem besonderen Hintergrund, denn die 16-jährige
Protagonistin Esther gehört ebenso wie ihre Eltern der Glaubensgemeinschaft der
Zeugen Jehovas an. Das Glaubenssystem der Gruppe lässt sie innerhalb unserer
Welt in einem eigenen Kosmos leben.
Esther und ihre Eltern sind kurz nach der Wende in den Osten
Deutschlands gezogen, wo die Mitglieder der Glaubensgemeinschaft jetzt nicht
mehr mit Verfolgung rechnen müssen. Ihre Gedanken kreisen um ihre Freundschaft
mit Sulamith und die Ereignisse der letzten Wochen während sie noch in ihrer
Heimat in einem fiktiven Ort im Rheinland wohnte. Esther erzählt als
Ich-Erzählerin von dem engen Raum, der ihr als Jugendliche unter Gleichaltrigen
gegeben wird. Stattdessen ist sie eingebunden in die Gewinnung neuer Mitglieder
und der regelmäßigen Stärkung des Glaubens.
Stefanie de Velasco war bis im jugendlichen Alter selbst
Teil der Gemeinschaft und erzählt daher mit Hintergrundwissen, was der
Geschichte Authentizität verleiht. Esther erlebt die neue Stadt und die neue
Schule und ließ mich als Leserin dabei an ihren widerstreitenden Gefühlen
teilnehmen. Ein Zufall lässt sie erkennen, dass ihre Eltern sie in einer
Familienangelegenheit belügen, was dazu beiträgt, dass sie zunehmend beginnt,
die Sinnhaftigkeit ihres eigenen Glaubens, aber auch anderer zu hinterfragen. Neben
ihrer permanenten Angst vor dem Weltuntergang sind ihr auch die negativen Konsequenzen
bewusst, die ein möglicher Gemeindeaustritt für sie mit sich bringen würde.
Oft gleiten ihre Gedanken wieder zu ihrer Freundin Sulamith,
die in den vergangenen Monaten im Rheinland eine ähnliche Auseinandersetzung
mit sich geführt hat und sich dadurch nicht nur glaubens- sondern auch
gefühlsmäßig immer mehr von Esther entfernt hat. Deutlich ist zu spüren, dass
Esther schwer an dem Ende dieser Freundschaft trägt. Die dahinterstehende
Tragik gibt die Autorin erst mit und mit preis.
In einem Alter, in dem durch eigene Erfahrungen die Umwelt
sich für Jugendliche immer mehr verständlich öffnet und sie nach dem Sinn im
Leben zu suchen beginnen, versucht Esther dem um sie gestrickten Kokon zu
entkommen. Der Roman wirft dabei die Frage auf, was wir brauchen, um uns
geborgen und beschützt zu fühlen und dennoch uns selbst verwirklichen zu
können. Zwischen den Kapiteln erzählt Stefanie de Velasco eine Sage über die
Bedeutung von Salz, die im übertragenen Sinne des Werts einer angemessenen
Lebensführung der Glaubensmitglieder zu verstehen ist.
Mit dem Roman „Kein Teil der Welt“ hat Stefanie de Velasco
mir interessante Einblicke in eine mir weitgehend unbekannte
Glaubensgemeinschaft gegeben. Einfühlsam und eindringlich schildert sie den
Prozess der frühen Ablösung der 16-jährigen Esther vom Elternhaus, weil sie im
Vergleich mit ihren Eltern konträre Vorstellungen vom Leben hat, die verbunden sind
mit Esthers Suche nach ihrem eigenen Weg. Dabei versucht sie sich ihrer Wünsche
bewusst zu werden und träumt davon, sie sich zu erfüllen. Mich hat die
Erzählung sehr angesprochen und daher empfehle ich sie gerne weiter.