Rezension von Ingrid Eßer
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Titel: Die Wahrheit ist
Autor: Eshkol Nevo
Übersetzer aus dem Hebräischen: Markus Lemke
Erscheinungsdatum: 24.04.2020
Verlag: dtv (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag und Leseband
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Seinen Roman „Die Wahrheit ist“ hat der israelische Autor
Eshkol Nevo auf eine besondere Weise gestaltet. Er setzt sich zusammen aus den Antworten,
die ein Alter Ego des Schriftstellers als fiktiver Ich-Erzähler auf über
hundert Fragen gibt, die ein Onlineredakteur aus einer Reihe von Fragen der
User ausgewählt hat. Der Ich-Erzähler vermutet, dass es sein letztes Interview
sein wird, denn er rechnet mit einem Herzinfarkt in den nächsten zwei Jahren, wobei
seine Befürchtung auf seinen familiären Erfahrungen beruht.
Momentan schreibt er an keinem neuen Roman, weil es noch
kein Jahr her ist, dass sein letztes Buch erschienen ist und er in der Zeit
nach der Veröffentlichung immer besonders offen dafür ist, sich neu zu
verlieben. Bereits nach dieser Aussage auf einer der ersten Seiten, stellte ich
in Frage, ob der Erzähler sich tatsächlich an sein Versprechen dem Leser
gegenüber hält, die Antworten der Wahrheit entsprechend zu geben, so wie es
auch der Buchtitel andeutet, doch dazu weiter unten mehr. Im Cover drückt sich
aus, dass sich Teile eines Ganzen, wie hier zum Beispiel die Wahrheit, in Ihrer
Gestaltung verschieben lassen und dadurch ein neuer Eindruck entsteht.
Der Roman hat keine durchgehende Handlung und setzt sich aus
vielen kurzen Geschichten als jeweilige Erwiderung zusammen. Lediglich zwei bis
drei Fragen beantwortet der Protagonist täglich, so dass der Handlungsspielraum
sich über einen längeren Zeitraum zieht. Aus den Antworten ergibt sich immer
mehr das Bild eines Schriftstellers, der sich seine Wahrheiten zurechtbiegt
entsprechend seiner Wünsche und Vorstellungen vom Leben. Die Schilderungen sind
teils wie Vexierbilder doppeldeutig. Den Wahrheitsgehalt zu finden ist
schwierig. Beispielsweise gibt er sich gerne als Liebhaber, obwohl er seit
vielen Jahren verheiratet ist. Später nimmt er seine Aussagen zurück, auch weil
seine Ehe darunter leidet.
Problematisch ist ebenfalls, dass er eigene Erfahrungen in
seine Romanhandlungen einfließen lässt. Seine älteste Tochter hat dafür kein
Verständnis und ihre Konsequenzen daraus gezogen. Auch in anderer Hinsicht hat
er Sorgen, denn aufgrund eines lukrativen Auftrags hat er sich zur
Unterstützung einer Meinung entschlossen, die nicht seine ist. Als er weitere
Tätigkeiten dieser Art ablehnt, wird er vom Auftraggeber unter Druck gesetzt. Es
wird deutlich, dass er auf ein positives Bild von sich in der Öffentlichkeit
bedacht ist.
Die vorgenannten Gründe haben sicher auch dazu beigetragen,
dass er unter einer ständigen Missstimmung leidet und vermutlich auch zu seiner
momentanen Schreibblockade führten. Die Interviewfragen sind meist typisch für
solche, die Schriftstellern gestellt werden und beziehen sich auf alles rund
ums Schreiben, selten kommt es vor, dass Fragen zum familiären Hintergrund
gestellt werden. Sie stehen in keiner Reihenfolge und führen zu Antworten, in
die eine permanente zeitliche gegenwärtige Entwicklung einfließt, jedoch gehen
die Gedanken des Ich-Erzählers häufig zurück zu Erinnerungen, die nicht immer
positiver Art sind. Die örtlichen und zeitlichen Wechsel störten immer wieder
meinen Lesefluss.
In seinem Roman „Die Wahrheit ist“ schreibt Eshkol Nevo über
einen Autor, dem er seinen eigenen Namen gibt. Unweigerlich habe ich beim Lesen
begonnen nach Parallelen zwischen Verfasser und fiktivem Schriftsteller zu
suchen. Ähnlichkeiten zu sehen ist jedoch müßig, weil der Ich-Erzähler nach
eigener Aussage die Schilderungen seinen Erwartungen an ein schönes Leben anpasst.
Es ist unmöglich, die Wahrheit herauszufiltern, was den Roman überaus
faszinierend macht. Gerne vergebe ich hierzu eine Leseempfehlung.