Rezension von Ingrid Eßer
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Verena Keßler hat in ihrem ersten Roman „Die Gespenster von
Demmin“ eine wenig bekannte historische Episode verarbeite. Denn in Demmin, dem
Handlungsort der Geschichte, töteten sich in den ersten Maitagen des Jahres
1945 eine hohe dreistellige Anzahl Einwohner selbst, meist Frauen und ihre
Kinder, aus Angst vor den Übergriffen der einmarschierten Rotarmisten.
Larissa Schramm, die sich lieber Larry rufen lässt, ist eine
der beiden Protagonistinnen des Romans. Sie ist 15 Jahre alt und eine der etwa
11.000 heutigen Bewohner der Kleinstadt in Mecklenburg-Vorpommern. Die zweite
Protagonistin, ihre Nachbarin Frau Dohlberg, steht kurz vor dem Umzug in ein
Seniorenheim. Sie wohnt seit eh und je in Demmin und hat die Tragödie der
letzten Kriegstage miterlebt. Obwohl beide sich viel zu sagen hätten, ergeben
die Umstände es nicht, dass die beiden Hauptfiguren sich untereinander über ihr
Leben und ihre Wünsche austauschen.
Verena Keßler schreibt ihren Roman in einem unterhaltsamen,
leicht lesbaren Stil. Sie versteht es durch ihre Sätze, von denen jeder an
genau der Stelle steht an der er benötigt wird, eine Fülle an Emotionen zu
transportieren. Beide Handlungsstränge laufen parallel.
Obwohl Larrys Alltag unbeschwert erscheint, bemerkt man bald
eine Last auf ihr, die sich im Laufe der Erzählung klärt und ihren Grund in
einem schweren Verlust innerhalb ihrer Familie findet. Damit und mit der
Geschichte des Orts hängen wahrscheinlich auch Larrys eigenwillige Hobbies
zusammen. Bereits in Kindertagen bildete Larry mit ihrer Freundin ein
Gespensterjägergespann. Jetzt widmet sie einen Teil ihrer Freizeit einem
Training verschiedener Szenarien, in denen sie bis an den Rand ihrer Kräfte und
des Erträglichen geht, um sich abzuhärten für ihren späteren Traumberuf als
Kriegsreporterin. Dadurch bringt die Autorin eine gehörige Portion Spannung in
ihren Roman ein, denn es kommt durch Larrys Übungen zu einigen heiklen
Situationen. In einem weiteren Teil ihrer freien Zeit verdient sie sich ein
Taschengeld durch die Pflege von Gräbern auf dem nahen Friedhof.
So wie Larry sich darauf vorbereitet, sich in Krisengebieten
auf sich allein gestellt, mit wenig Habseligkeiten zurechtzukommen, so plant
die Nachbarin von gegenüber ihren Aufenthalt im Heim, der streng geregelt ist
mit nur wenigen persönlichen Gegenständen, die sie mitnehmen darf. Mit dem
Aussortieren, Wegwerfen und Abgeben ihrer Habe, scheint jedes Mal ein Stück von
ihr selbst zu verschwinden, während Larissa an ihrer selbstgesetzten Aufgabe zu
wachsen scheint. Verena Keßler nutzt Frau Dohlberg als Figur, um die Schrecken
der Vergangenheit ans Licht zu bringen und zu verdeutlichen, warum es zu einem
Massenselbstmord in Demmin gekommen ist.
Verena Keßler setzt sich in ihrem Roman „Die Gespenster von
Demmin“ mit dem Verlust geliebter Menschen auf einmalige Weise auseinander,
indem sie geschickt Gegenwart und Vergangenheit verknüpft. Dennoch gibt sie
durch einige amüsante Szenarien ihrer Schilderung immer wieder einen
stellenweisen heiteren Unterton. Entsprechend einer typischen Coming-of-Age-Geschichte
fehlt es auch nicht an ersten Liebesgefühlen und außerdem Eltern, die nicht der
Vorstellung ihres Kindes entsprechen. Der Roman ist tiefgründig, bewegt und
hallt nach. Gerne empfehle ich das Buch weiter.