Rezension von Ingrid Eßer
-------------------------------------------------------------------------------------------------
Der Debütroman von Andreas Wagner heißt „Jahresringe“ und
Jahresringe sind es auch die Leonore ihrem etwa elfjährigen Sohn Paul zeigt an
einem Nachmittag Mitte der 1970er Jahre im Bürgewald von Lich-Steinstrass, zwei
kleiner Ortschaften in der Nähe von Jülich. Die beiden zählen zu den
Protagonisten der Geschichte. Paul bewundert das Alter der Bäume von denen er
nicht ahnen kann, dass sie schon wenige Jahre später dem Braunkohletagebau im
Abbaugebiet Hambach weichen müssen. Der Bürgewald ist bei den Doppelortbewohnern
auch bekannt für seine vielen Maiglöckchen von denen eines das Cover des Buchs
dekorativ ziert.
Der Roman setzt sich aus drei Teilen zusammen. Der erste
spielt in den Jahren 1946 bis 1964 und schildert die Ankunft der 13-jährigen
Ostpreußin Leonore in Lich-Steinstrass und ihr Leben von der Zeit als
Verkäuferin in einer Moppenbäckerei an bis zur Geburt ihres Sohns Paus. Im
zweiten Teil, der von 1976 bis 1986 spielt, steht Paul und seine Freundschaften
im Vordergrund. Der letzte Teil nimmt dann Pauls Kinder Jan und Sarah in den
Jahren 2017 und 2018 in den Fokus, die sich im Hambacher Forst mit
gegensätzlichen Meinungen zur Abholzung gegenüberstehen.
Andreas Wagner schenkt mit „Jahresringe“ dem Leser einen
Roman mit vielen Fakten und Geschichten rund um das alte und neue Doppeldorf
Lich-Steinstrass. Dabei greift er regionale Besonderheiten auf wie
beispielsweise das Backen von Moppen, einem Lebkuchenplätzchen, dass über die
Gegend hinaus aufgrund ihres leckeren Geschmacks bekannt war und auf vielen Jahrmärkten
der Umgebung angeboten wurde. Auch andernorts und in Holland war das Gebäck
bekannt, doch mit einer anderen Rezeptur. Er nimmt den Leser mit in den
Bürgewald, der früher den Anwohnern auf mehrfache Weise genutzt wurde und
dadurch eine Nahrungsgrundlage bot. Im Laufe der Jahre zeigt der Autor, wie
sich seine Bedeutung geändert hat.
Auch die Menschen des Orts haben sich über die geschilderten
Zeiten hinweg geändert, doch einiges ändert sich nicht. Dem Flüchtlingsmädchen
Leonore wird ähnlich wie den Flüchtlingen heute Misstrauen entgegengebracht.
Hier wirft sich die Frage auf, was Heimat und damit verbunden Familie ist und
dem Einzelnen bedeutet. In Lich-Steinstrass wird die Frage Ende der 1970er
Frage existenziell als es darum geht, den Doppelort umzusiedeln. Der
finanzielle Aspekt der Abfindung, die überaus fair gehandhabt wurde, wie mir,
die 1983 vor Ort und im Tagebau war, in Erinnerung ist, tritt dahinter zurück. Einige
Bürger verschuldeten sich dennoch, weil sie über die Abfindung hinaus prächtige
Neubauten anstrebten, um sich damit von ihren Nachbarn abzuheben.
Beim Thema Hambacher Forst stellt Andreas Wagner Schwester
und Bruder mit verschiedenen Meinungen gegenüber und verdeutlicht so, wie
schwierig es in der Region ist, über den Braunkohletagebau zu urteilen.
Fließende, milde Übergänge zwischen Fiktion und Realität gelingen dem Autor
leider nicht immer. Manches wirkt konstruiert, Handlungen waren mir manchmal
nicht realistisch genug begründet und daher für mich wenig nachvollziehbar.
Dennoch habe ich mich gefreut mit dem Roman „Jahresringe“ eine Geschichte zu
lesen, die unweit meiner Heimat spielt und vom Thema des Tagebaus der
Braunkohle längst bei uns in Erkelenz zum Alltag gehört. Das Buch transportiert
auf diese Weise eine wichtige Angelegenheit an die Öffentlichkeit und sollte
daher gelesen werden.