Der Roman „Oktoberfest 1900“ von Petra Grill basiert auf der
Idee des Drehbuchs zum gleichnamigen ARD Mehrteiler, jedoch ist die Handlung in
Teilen voneinander abweichend. Der Untertitel des Buchs „Träume und Wagnis“
deutet an, dass die beiden Protagonistinnen Colina und Clara ihre jeweils
eigene Vorstellung einer lebenswerten Zukunft haben und dass die Umsetzung
ihrer Wünsche damit verbunden ist, Risiken einzugehen.
Man schreibt das Jahr 1900. Die Berufsgruppe hat
grundsätzlich kein festes Einkommen, die Entlohnung besteht in den Trinkgeldern
der Wirtshausbesucher und für Dienste, die die Biermadl den Gästen nebenher
anbieten. Die Frauen sind austauschbar, denn besondere Kenntnisse sind zur
Ausübung des Berufs nicht nötig. Für Colina steht fest: sie möchte eine neue
Chance in einem Job mit festem Einkommen. Mit List und Tücke schafft sie es,
eine Stelle im Haus des fränkischen Bierbrauers Prank als Gouvernante seiner
19-jährigen Tochter Clara zu ergattern. Clara hat gerade das Mädchenpensionat
in Nürnberg beendet. Es ist zu erwarten, dass ihr verwitweter Vater ihr in der
nächsten Zeit geeignete Heiratskandidaten zuführen wird und so ihre Zukunft an
der Seite eines gutsituierten Ehemanns voraussehbar ist. Doch das ist nicht im
Sinne der eigenwilligen Clara.
Schon bald nach Beginn des Romans geschieht ein
ungewöhnlicher Mordfall, denn im Vorfeld des anstehenden Oktoberfests wird der
am Hals angenagte Kopf eines Brauereibesitzers und Schankwirts gefunden. Ein
Täter ist schon bald gefunden, aber die Schuld ist zweifelhaft. Es ist
interessant, die damalige Arbeitsweise der Polizei zu verfolgen, die in diesem
Roman einiges zu tun erhält. Eine Beweisführung ohne Zeugen ist schwierig, mit Gewaltanwendung
ist man schnell zur Hand.
Neben einer unterhaltsamen, teils amüsanten Handlung,
thematisiert Petra Grill hier auch die Rechte der Frauen, die Colina gegenüber
ihrem Wirtshauschef vertritt. Sie zeigt aber auch, welche Rechte ein Ehemann
gegenüber seiner Frau hat und wie gering die Chancen einer Frau sind, sich aus
einer gescheiterten Ehe zu lösen. Die Autorin verdeutlicht, dass junge
Erwachsene länger als heute abhängig waren von der Entscheidung ihrer Eltern in
Bezug auf eine Heirat und ebenfalls bei anderen existenziellen Erwägungen waren.
Im Laufe der Geschichte stellt sich immer mehr heraus, dass
der Bierausschank zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem Politikum wurde. Was
hier nur fiktiv dargestellt wird, basiert auf realen Begebenheiten, die dazu
führten, dass ein Nürnberger Wirt der Betreiber einer großen Festhalle auf dem
Oktoberfest in München wurde.
Petra Grill schafft in ihrem Roman „Oktoberfest 1900“ realistisch
vorstellbare Figuren und Ereignisse. Ihre Figuren erleben Höhen und Tiefen,
deren Handlungen sind nicht immer lobenswert, aber immer wieder überraschend.
Für mich war es erstaunlich, welche Bedeutung und welchen Umfang das
Oktoberfest zur damaligen Zeit hatte. Die Autorin konnte mir die Stimmung einer
feierfreudigen Münchner Gesellschaft, die ihre Tradition mit allen Rechten und
Gesetzen hochhält, sehr gut vermitteln. Gerne empfehle ich den Roman an alle
Leser von historischen Romanen weiter.