Rezension von Ingrid Eßer
In seinem Roman „Herzfaden“ verbindet Thomas Hettche zwei
Handlungsebenen. Der Untertitel kündigt es bereits an, dass er einerseits die
Geschichte der Augsburger Puppenkiste und der Tochter des Gründers sowie
Puppenschnitzerin Hannelore Marschall-Oehmichen erzählt, von den ersten
Anfängen an bis zu Beginn der 1960er Jahre. Andererseits hat der Autor sich eine
märchenhafte Geschichte ausgedacht von einem 12-jährigen Mädchen, das sich nach
einer Vorstellung der Puppenkiste vor seinem Vater im Foyer des Theaters
versteckt, eine verborgene Tür entdeckt und durch diese in eine magische Welt
der Marionetten hineingezogen wird.
Die beiden Erzählstränge sind leicht zu unterscheiden, denn
das fiktionalisierte Leben von Hannelore, genannt Hatü, findet sich in blauem
Druck im Buch, die reine Fantasie ist rot gedruckt. Auf diese Weise können
diejenigen, deren Interesse lediglich nur einem der beiden Schilderungen gilt,
ohne Mühe der von ihnen priorisierten Handlung folgen. Wesentlich für beide Erzählungen
ist der Herzfaden, der dem Buch den Titel gibt. Der Herzfaden ist, nach der
Erklärung von Hatüs Vater, die Verbindung der Marionette zum Herzen des
Menschen. Sie ist unsichtbar, aber zum Transport all der Emotionen geeignet,
die, obwohl „nur“ eine Holzpuppe, durch ihre Spielweise an ihren Zuschauer
weiterzugeben in der Lage ist.
Bald nach Ausstrahlung der ersten Sendungen wird das
Fernsehen auf die Puppenkiste aufmerksam. Die Frage steht im Raum, ob sich auch
hier ein Herzfaden entwickeln kann. Ich finde ja, denn ich war als Kind eine
begeisterte Zuschauerin der im Fernsehen gezeigten Aufzeichnungen. Umso
begeistertet war ich, als ich im Roman einige Figuren wie beispielsweise das
Urmel, die Prinzessin Li Si und auch Jim Knopf wiederfinden konnte.
Die Augsburger Puppenkiste entwickelte sich aus ersten
Anfängen nach einer Idee von Walter Oehmichen. Er und seine Frau sind
Theaterschauspieler. Schon in Kriegstagen bastelte er einen sogenannten
Puppenschrein, der in einen Türrahmen passte, und schon drei Monate später bei
einem Bombenangriff auf Augsburg restlos verbrannte. Es gab viele Höhen und
Tiefen, die die Familie Oehmichen erlebte und mich als Leser berührten, bis
sich 1948 die Bretter der bis heute bekannten Augsburger Puppenkiste zum ersten
Mal für die Zuschauer öffneten. Hatü war zu diesem Zeitpunkt 17 Jahre alt. Ihre
Passion sieht sie nicht nur im Führen der Figuren, sondern vor allem im
Schnitzen.
Nicht nur Kinder sind von den Stücken zu begeistern, sondern
auch Erwachsene. An Seite der kleinen Marionetten können sie sich in eine
Fantasiewelt versetzen, jenseits der schweren Zeiten, die die Bevölkerung noch
lange nach Ende des Weltkriegs in der Bevölkerung durchlebte. Wobei auch die
märchenhafte Erzählung den heutigen Lesern des Buchs deutlich macht, dass
Illusion Grenzen des Denkens überwindet. Thomas Hettche verbindet die beiden
Handlungsebenen durch ein Geheimnis um die Entstehung des Kaspars, das erst zum
Ende aufgedeckt wird.
Der Roman „Herzfaden“ von Thomas Hettche ist ein Roman für
Leser, die das Staunen eines Kindes über die reale und magische Welt nicht
verlernt haben. Wunderschön wird der Text von Zeichnungen von Matthias
Beckmann, die alle in Bezug zur Puppenkiste und seinen Figuren stehen, illustriert.
Sehr gerne vergebe ich zum Buch eine uneingeschränkte Leseempfehlung.