Rezension von Ingrid Eßer
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Der Roman
„Fräulein Gold - Scheunenkinder“ von Anne Stern ist der zweite Teil einer Serie
rund um die Schöneberger Hebamme Hulda Gold. Er spielt im historischen Berlin von
Mitte Oktober bis Anfang Dezember des Jahrs 1923. Der Stadtteil „Scheunenviertel“
rückt in den Mittelpunkt dadurch, dass es dort im November des Jahres ein
antisemitisches Pogrom gibt und die Protagonistin in dieser Zeit vor Ort ist.
Die vordere Klappe des Buchs bietet in ihrer Gestaltung den Ausschnitt einer
Karte von Berlin zur besseren Verortung der Lokalitäten. Der Untertitel des
Romans ist unabhängig von den Ausschreitungen und bezieht sich auf strafbare
Ereignisse im Viertel bei denen Kinder eine wichtige Rolle spielen. Im Prolog
wirft die Autorin das Rätsel auf, wie die dort geschilderte Handlung in den
Gesamtkontext einzuordnen ist. Erst zum Ende der Geschichte ergab sich für mich
ein Gesamtbild, das allerdings nicht zum Verständnis des Romans notwendig war,
wohl aber die Vergangenheit einer der Figuren klärt.
Hulda hat zu
ihrem Vater kaum Kontakt, doch über dessen Bekanntenkreis erhält sie den
Auftrag, nach der hochschwangeren Tamar im Scheunenviertel zu schauen. Die
junge Frau ist eine Nichtjüdin aus Smyrna, dem heutigen Izmir und mit einem
galizischen Juden verheiratet. Hulda erlebt die Spannungen in der Familie, die
sich aus den verschiedenen Glaubensansichten ergeben. Zwei Tage nach der Geburt
verschwindet das Neugeborene spurlos. Es ist nicht leicht, in dem verbauten,
als anrüchig betrachteten Scheunenviertel nach einem Säugling zu suchen und als
Auswärtige stößt sie bei den Bewohnern auf Misstrauen. Viele sind arbeitslos,
das Geld hat immer weniger Kaufkraft. Dafür verantwortlich gemacht werden die
Juden des Viertels weswegen es zu Unruhen kommt. Währenddessen ermittelt Kommissar
Karl North, Huldas Freund, in einem Fall von Kinderhandel. Obwohl er Hulda
gegenüber nicht ins Detail gehen darf, wittert diese einen Zusammenhang mit der
Entführung und beginnt mit eigenen Recherchen.
Die
sympathische Hulda, inzwischen 28 Jahre alt, ist stolz auf ihre Unabhängigkeit.
Ihre Beziehung mit Karl erlebt im Roman einige Höhen, aber auch Tiefen, die von
beiden bedauert werden. Sowohl Hulda wie auch Karl sehen die Schuld für ihre
Streitigkeiten bei sich. Hulda entspricht nicht der damals geltenden Norm der
Frau als Hausfrau und Mutter, weil sie sich ihrem Beruf eng verbunden fühlt.
Obwohl es damals für die freien Hebammen klare Grenzen bei der Ausübung ihres
Berufs in ihren Tätigkeiten gibt, setzt sie sich mit all ihren Fähigkeiten bei
jeder Geburt für die Gesundheit von Mutter und Kind ein. Doch das Leben auf
Rufbereitschaft geht nicht ohne Spuren an ihr vorbei. Karl hingegen hat Zweifel
an seinen beruflichen Fähigkeiten, weil er den enormen Einsatz seines Kollegen
bewundert und seine eigenen Ergebnisse ständig mit dessen vergleicht. Aufgrund
seiner Vergangenheit scheut er davor, in der Liebe enttäuscht zu werden und
nimmt jedes kritisch beurteilende Wort einer Situation von Hulda persönlich.
Es gelingt
Anne Stern ihre Geschichte an eine wenig thematisierte, aber geschichtlich
bedeutende Episode zu koppeln. Die Bevölkerung ist mehr und mehr unzufriedener.
Zunehmend ist es schwierig, selbst Lebensnotwendiges zu besorgen, Hunger und
Kälte nehmen zu. Die Unzufriedenheit äußert sich in der Kritik gegen die
politischen Führungskräfte, durch die Republik geht ein Rechtsruck. Obwohl
Hulda nicht religiös ist, wird ihre jüdische Herkunft immer häufiger
thematisiert. Die Autorin vermittelt die düstere Atmosphäre der damaligen Zeit.
Dennoch finden auch die Vergnügungssuchenden einen Platz im kalten Berlin. Bis
in die Nebenfiguren hinein begegnete ich Personen mit interessantem
Hintergrund. In der hinteren Klappe wird nicht nur auf den ersten Band der
Reihe hingewiesen, sondern auch auf den dritten Teil, der im Mai 2021
erscheinen wird.
Der zweite
Band der Romanreihe um die Hebamme Fräulein Gold von Anne Stern stand dem
ersten in nichts nach. Auch diesmal schafft die Autorin es, mir ein
authentisches Bild der gesellschaftlichen Verhältnisse zur damaligen Zeit zu
vermitteln und ihre Figuren dabei nachvollziehbar handeln zu lassen. Gerne
empfehle ich das Buch an Leser historischer Romane weiter und freue mich auf
den nächsten Band.