Rezension von Ingrid Eßer
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In ihrem Roman „Das letzte Licht des Tages“ erzählt Kristin
Harmel auf zwei Zeitebenen. Einerseits schildert sie die Geschichte von Inès
und Céline ab Mai 1940, andererseits steht Liv im Jahr 2019 im Mittelpunkt.
Inès ist eine junge Waise, die den Winzer Michel durch ihre
beste Freundin Edith kennenlernt. Nach der baldigen Heirat folgt sie ihm auf
sein Weingut in die Champagne. Michel kann sich auch zu Kriegszeiten auf seinen
Kellermeister Théo und seine Frau Céline verlassen, während Inès sich aufgrund
ihrer geringen Kenntnisse über die Weinproduktion häufig unnütz fühlt. Als sie
herausfindet, dass Michel sich der Resistance angeschlossen hat, beginnt sie
sich verstärkt für das politische Geschehen zu interessieren und hadert mit
ihrer eigenen Einstellung. Währenddessen fühlt sie immer mehr Distanz zu ihrem
Ehemann. Während sie selbst nach mehr Zuneigung sucht, ahnt sie nicht, was
unterdessen das Herz von Michel bewegt.
Die in New York lebende, frisch geschiedene Liv folgt ihrer
hochbetagten Großmutter Edith nach deren spontanem Besuch in die Heimat nach
Frankreich. Edith verbirgt ein Geheimnis, steht aber kurz davor, es ihr
mitzuteilen. Nur langsam entschlüsselt sich ihre Vergangenheit, während der
attraktive Enkel einer renommierten Anwaltskanzlei, zu der Edith vollstes
Vertrauen hat, an Livs Seite ist und sich gemeinsam mit ihr auf Spurensuche nach
familiären Ereignissen im Zweiten Weltkrieg begibt.
Kristin Harmel nahm mich als Leser mit in die Champagne nach
Reims und Umgebung. Mit viel Leidenschaft beschreibt sie dank sehr guter
Recherche einige Details zu verschiedenen Produktionsschritte, die bei der
Manufaktur von Champagner anfallen. Daneben greift sie mit dem Widerstand im
Zweiten Weltkrieg in eben jenem Gebiet rund um Reims ein weniger beachtetes
Thema der Geschichte auf, das deswegen besonders dramatisch ist, weil auch der
Erste Weltkrieg in der Gegend große Schäden hinterlassen hat, in personeller
wie auch materieller Hinsicht. Allerdings beschränkt sich die Autorin im
Zusammenhang mit der Résistance allein auf Ereignisse, wie sie das Weingut und
die dort lebenden Personen betroffen haben könnten, ohne die Fakten in einen
größeren Zusammenhang zu stellen.
Die Figuren sind erfreulich wandlungsfähig, auch aufgrund
der Geheimnisse, die vor allem die Widerstandskämpfer mit sich trugen. Zwar waren
die Handlungen von Inés für mich nicht immer verständlich, aber die Autorin
versucht ihr Vorgehen bestens zu begründen. Mit viel Empathie beschreibt sie
die Beziehungen und Gefühle zwischen den Charakteren. Sie zeigt, wie schwierig
es ist, mit einer langen zurückliegenden Schuld zurecht zu kommen und diese zu
verarbeiten. Liebe, Hoffnung und Vertrauen, aber auch Missgunst und
Unverständnis zwischen den Protagonisten ziehen sich durch das Geschehen.
Kristin Harmel führt ihren Roman „Das letzte Licht des Tages“,
über einige unerwartete, manchmal tragische Wendungen auf beiden Zeitebenen zu
einem überraschenden erfreulichen Ende. Die Geschichte hat einen hohen
Unterhaltungswert und daher empfehle ich ihn gerne an Leser von Romanen mit
Familiengeheimnis weiter.