Rezension von Ingrid Eßer
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Büchereien sind für Leseratten ein anziehender Ort. Aber in
der „Mitternachtsbibliothek“, wie der Brite Matt Haig sie in seinem
gleichnamigen Roman beschreibt, ist sicher noch niemand von ihnen gewesen. Die 35-jährige
Protagonistin Nora Seed ist kein Bücherwurm, doch das Schicksal führt sie in der
Geschichte in die magische Welt, die der Autor in seinem Roman in Form der
Mitternachtsbibliothek beschreibt. Vor Ort findet sie volle Regale vor, gefüllt
mit Büchern, deren Einbände in allen erdenklichen grünen Farben erstrahlen.
Alle Ausgaben sind gefüllt mit Biografien ihres Lebens, die sich in Details
unterscheiden. Wie der Name schon sagt, kann die Bücherei nur um Mitternacht
betreten werden, während Raum und Zeit stillstehen und man sich zwischen Leben
und Tod befindet.
Während eines Schachspiels in der Bibliothek ihres
Heimatorts Bedfords erfährt die sechszehnjährige Nora durch einen Telefonanruf
vom plötzlichen Tod ihres Vaters. Das könnte der schlechteste Tag in ihrem
Leben gewesen sein, doch neunzehn Jahre später, als sie ihren Job verloren hat,
ihre Katze verstorben ist, sie Streit mit Verwandten und Freunden hat, fühlt
sie sich einsam und empfindet ihr Leben nicht mehr lebenswert. Sie beschließt
zu sterben und findet sich während des Übergangsprozesses in der
Mitternachtsbibliothek gemeinsam mit ihrer früheren Schulbibliothekarin wieder.
Sie erhält die Chance verschiedene Varianten ihres Lebens auszuprobieren. Wird
sie eines finden, dass ihren Vorstellungen vom Glücklichsein entspricht?
Matt Haig greift in seinem Roman die interessante Idee auf,
mit der sich bestimmt schon viele beschäftigt haben, was geschehen wäre, wenn
man sich an einem oder mehreren Punkten im Leben anders entschieden hätte. Auf
eine ruhige Art und Weise lässt er seine Protagonistin erfahren, dass es nicht
einfach ist, sein Leben in allen Einzelheiten zufriedenstellend zu empfinden.
Er gibt zu bedenken, dass eine Entscheidung mehr als eine weitreichende
Änderung nach sich zieht.
Nora hat sich vielen Chancen bewusst entzogen, denn sie
hätte vielleicht bei Olympia teilnehmen, mit einer Band erfolgreich sein oder
als Gletscherforscherin oder Philosophin berühmt werden können. Diese
Auflistung gibt nur einen Ausschnitt von Noras Möglichkeiten wieder und allein
daraus lässt sich erkennen, dass es nicht einfach ist, das Leben zu finden,
dass glücklich macht. Nora war als Kind schüchtern und durch Erfolge bekam sie
im Vergleich zu anderen mehr Aufmerksamkeit, was ihr nicht behagte. Aber das
war nur eines ihrer Sorgen, die sie zu dem gemacht haben, was sie heute ist.
Die Mitternachtsbibliothek gibt ihr die Chance, Dinge zu ändern, die sie
bereut. Der Weg dazu, sich selbst zu finden, ist mit vielen Erfahrungen
verbunden, die teils wütend stimmen, traurig machen oder auch fröhlich,
bedrückend sind oder heiter. Nora steht an einem Scheideweg vor der endgültigen
Entscheidung über ihre Zukunft.
Matt Haig zeigt in seinem Roman „Die
Mitternachtsbibliothek“, dass das Leben jedem von uns zahlreiche Entscheidungen
abverlangt, die jeweils weitere Konsequenzen mit sich bringen. Seine
Protagonistin Nora lernt, darüber nachzudenken, ob eine andere Entscheidung
tatsächlich die besseren Auswirkungen gezeigt hätte. Noras Geschichte ist
nachvollziehbar. Auf sanfte Art vermittelt der Autor ein Stück Philosophie, die
nachdenklich stimmt und berührt. Gerne vergebe ich eine uneingeschränkte
Leseempfehlung.