Taschenbuch: 384 Seiten
London, November 1747: Bess lebt mit ihrem Vater und ihrem Bruder in einer kleinen Wohnung im Schatten des Fleet-Gefängnisses. Als Krabbenverkäuferin verdient sie nicht viel, sodass sie ihr Neugeborenes nicht durch den Winter bringen könnte. Schweren Herzenz gibt sie ihre Tochter Clara im Foundling Hospital ab mit dem festen Versprechen, sie wieder zu sich zu holen, wenn ihre Situation das erlaubt.
Sechs Jahre später ist es so weit. Bess hat zwei Pfund gespart, für sie ein kleines Vermögen, und will Clara zu sich holen. Doch im Foundling Hospital muss sie erfahren, dass ihre Tochter gar nicht dort ist. Einen Tag nach ihrer Abgabe wurde sie wieder abgeholt, und zwar angeblich von ihr selbst. Wer hat sich für sie ausgegeben und warum? Als sie einen Hinweis findet, schmiedet sie einen riskanten Plan...
Das Cover des Romans zeigt eine Frau mit Kind, die in einem verschlossenen Käfig steht. Was hinter diesem Bild steckt enthüllt sich im Laufe der Geschichte. Zunächst aber begleitet der Leser Bess bei ihrem schweren Entschluss, ihre Tochter in die Obhut anderer zu bringen, um ihr Überleben zu sichern. Sie führt wie viele andere Londoner ein Leben in Armut und ist Tag für Tag in der Stadt unterwegs, um als Krabbenverkäuferin ein paar Münzen zu verdienen.
Sehr gut konnte ich ihren Schock nachvollziehen, als sie ihre Tochter endlich zu sich nehmen will und feststellen muss, dass jemand sie unter Vortäuschung falscher Tatsachen abgeholt hat. Ich erwartete eine lange Spurensuche, doch stattdessen bietet der Roman nach ein paar Kapiteln einen interessanten Twist und wechselt zusätzlich die Perspektive. Man lernt eine wohlhabende Frau namens Alexandra kennen, die ihr Haus nur für den wöchentlichen Kirchgang verlässt und sich in ihrem Haus eine eigene kleine Welt geschaffen hat.
Alexandras Leben in ihrem selbst geschaffenen goldenen Käfig steht in starkem Kontrast zu dem von Bess. Die gesellschaftliche Kluft zwischen den beiden Frauen wird gelungen dargestellt und ihr Aufeinandertreffen ist mit viel Brisanz verbunden. Für mich blieb die Geschichte unvorhersehbar und konnte mich immer wieder überraschen. Ich hätte mir allerdings gewünscht, dass die Motive für Alexandras Verhalten noch stärker herausgearbeitet werden. Die Schilderungen des Alltags im historischen London sind interessant, auf historische Ereignisse wird jedoch nicht eingegangen. Lediglich das Foundling Hospital hat es tatsächlich gegeben.
„Die Verlorenen“ von Stacey Halls nimmt den Leser mit ins London des 18. Jahrhunderts und bringt ins Nachdenken darüber, ob ein Leben in einem goldenen Käufig dem in Armut vorzuziehen ist oder nicht. Die Suche einer Mutter nach ihrer verlorenen Tochter ist nicht neu. Sie wird hier aber auf ansprechende Weise mit einigen Überraschungen erzählt.