Rezension von Ingrid Eßer
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In ihrem Roman „Die vier Gezeiten“ erzählt Anne Prettin eine
Familiengeschichte, bei der sie vor allem die weiblichen Mitglieder der
Familien Lock und Kießling, auf Juist wohnend, über vier Generationen hinweg in
den Fokus stellt. In die Vorbereitungen zur großen Feststunde in 2008 aus
Anlass der Verleihung des Verdienstordens, den Dr. Eduard Kießling erhalten soll,
platzt Helen, die in Neuseeland beheimatet ist und nun behauptet, zur Familie
zu gehören. Eduards Frau Adda, seine Schwiegermutter Johanne und seine
anwesenden Töchter sind ratlos, erstaunt und reagieren zunächst eher ablehnend.
Doch die Ähnlichkeit zwischen Helen und Adda lässt kaum Zweifel an der
Verwandtschaft aufkommen. Helen verfolgt hartnäckig ihre Mission, ihre
leibliche Mutter zu finden und wird von den Familienmitgliedern mit
unterschiedlichem Interesse und Anteil dabei unterstützt.
Gleich im Prolog las ich von einem Unglück, dass sich für
die Familie im Jahr 1978 anbahnt und die in Bezug auf die Covergestaltung
steht. Der Titel des Romans ergibt sich aus den verschiedenen Charakteren der
vier Töchter von Adda und erklärt sich dadurch, dass die Älteste und die
Jüngste bei Flut geboren wurden und unruhig und aufgeregt in ihrem Leben nach
ständiger Veränderung streben. Demgegenüber fand die Geburt der beiden
mittleren Frauen bei Ebbe statt und sie sind im Vergleich zu ihren Schwestern deutlich
ruhiger, zwar selbstbewusst, aber eher bereit sich anzupassen. Die vier Töchter
haben es nicht leicht, ihren eigenen Vorstellungen vom Leben nachzugehen und
diese gegen die Meinung ihres Vaters durchzusetzen. Demgegenüber ist es einfacher,
ihre Mutter auf ihre Seite zu ziehen. Adda hat wiederum eine ganz andere
Erziehung genossen. Ihr Vater ist früh verstorben und ihre Mutter Johanne hat
ihre Ansichten, eine rechtschaffene Tochter großzuziehen, mit einer gewissen
Härte umgesetzt.
Vor dem Hintergrund, dass Juist überschaubar ist und die
Bewohner sich gegenseitig fast alle gut kennen, zeigt die Familie nach außen
hin ein freundliches Miteinander. Hinter der Fassade aber schwelt der Ärger
übereinander wegen etlichen Streitigkeiten aus der Vergangenheit. Jedes
Familienmitglied hat etwas zu verbergen, was die Geschichte sehr komplex
gestaltet bei der Aufdeckung des Verschwiegenen. Anne Prettin springt dabei
über mehrere Zeitstufen und bindet einen Teil der tatsächlichen historischen Geschichte
Juists mit ein. Sie thematisiert die Besonderheit der Schule am Meer, den
Umgang mit der jüdischen Bevölkerung auf der Insel unter der
nationalsozialistischen Regierung und die Auswirkungen des Klimawandels auf das
Wattenmeer. Es ist aber auch die Geschichte des Tourismus auf dem Eiland und
die politische Macht und die Bedeutung, die man erhalten kann, wenn man sich
vor Ort dafür einsetzt.
Hinter jedem Familienmitglied wartet ein eigenes kleines
Geheimnis, das manchmal mit einem anderen ineinanderfließt und meist für
bestimmte, nicht immer gewünschte Folgen gesorgt hat. Ich fand es nicht immer
einfach, die wechselnden Szenerien in Einklang zu bringen. Anne Prettin
flechtet dabei die Vor- und Nachteile der Insellage mit ein, die einerseits
einengt, andererseits aber auch Schutz und Zusammenhalt bietet.
„Die vier Gezeiten“ von Anne Prettin ist ein
abwechslungsreich gestalteter Roman mit hohem Unterhaltungswert, der sich vor
allem durch die vielen kleinen Geheimnisse über vier Generationen hinweg
ergibt. Wirken die Mitglieder der Familie zunächst noch wenig nahbar, so war
ihre je eigene Geschichte mit der nach und nach die Heimlichkeiten aufgedeckt
wurden, bewegend und berührend. Gerne empfehle ich den Roman weiter.