Rezension von Ingrid Eßer
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Im Roman „Lebenssekunden“ erzählt Katharina Fuchs das
Schicksal zweier junger Frauen von 1956 bis 1961. Auf dem Cover ist in der
Mitte rechts ein Straßenschild zu sehen mit der Bezeichnung „Bernauer Straße“.
Durch den Bau der Mauer wurde hier in den Alltag der Anwohner besonders
drastisch eingegriffen, was im Buch unter anderem thematisch aufgegriffen wird.
Der Titel nimmt Bezug auf die wichtigen Momente im Leben, die sich nur in einem
genau passenden Augenblick in einem Foto festhalten lassen.
Angelika Stein ist eine der beiden Protagonistinnen. Sie lebt
Mitte der 1950er Jahre mit ihren Eltern und drei Geschwistern in Kassel.
Aufgrund ihrer schlechten Leistungen und ihrer Fehlstunden wird sie der Schule
verwiesen. Insgeheim träumt sie davon, sich zur Fotografin ausbilden zu lassen,
doch Lehrstellen scheinen männlichen Mitbewerbern vorbehalten zu sein. Ein
tragisches Unglück schärft ihren Blick für das, was Fotografien dem Betrachter
vermitteln sollten. Aufgrund glücklicher Verknüpfungen geht ihr Berufswunsch
schließlich in Erfüllung.
Währenddessen wird in Ostberlin das Talent der
gleichaltrigen Christine Magold als Kunstturnerin erkannt und vom Staat
gefördert. Schule und Training gestalten ihren Tagesablauf. Obwohl ihr Vater
republikflüchtig ist, kommt ihr Erfolg ihrer im Osten lebenden Familie zugute.
Doch ihre Gesundheit leidet zunehmend unter den Bedingungen, so dass sie sich
fragt, ob es im Sport eine Zukunft für sie geben wird.
Katharina Fuchs erzählt direkt aus dem Leben. Dank ihrer
sehr guten Recherche verknüpft sie gekonnt Fantasie und Fakten miteinander und
schafft auf diese Weise ein vorstellbares authentischen Umfeld für ihre
handelnden Personen. Angelika und Christine sind eigenwillige Charaktere, die
beide einen Traum vom Erfolg auf ganz unterschiedlichen Gebieten haben. Während
Angelika durch ihre Tätigkeit an Erfahrung gewinnt und immer selbstsicherer
wird, beginnt Christine durch äußere Einflüsse an ihrem Tun zu zweifeln.
Die Autorin schafft bei ihren Protagonistinnen nicht nur
durch die verschiedenen Lebensmittelpunkte, sondern bereits aufgrund des
Elternhauses ganz unterschiedliche Voraussetzungen für einen Start ins Leben.
Beide spüren die damals jeweils geltenden staatlichen Regeln, die sich vor
allem für Christine entscheidend auf ihr Leben auswirken. Die Handlungen ihrer
Figuren begleitet Katharina Fuchs mit Begründungen und dem Offenlegen der
Gefühle, was ihr durch die auktoriale Erzählweise bestens gelingt.
An der Seite von Angelika und Christine geht der Leser über
viele Höhen und manches Tal, hofft und bangt und freut sich über die Erfolge.
Geschickt setzt Katharina Fuchs zum Ende der Kapitel, die zwischen den beiden
Frauen ständig wechseln, kleine Cliffhanger, die dadurch zum schnellen Weiterlesen
auffordern.
Der Drill im Leistungssport, Fotojournalismus und die zunehmende Spaltung Deutschland in Ost und West nach dem Zweiten Weltkrieg sind die großen Themen des Romans, denen die Autorin sich einfühlsam und kompetent widmet. Gerne vergebe ich eine Leseempfehlung für „Lebenssekunden“, einem mitreißenden, bewegenden Roman von Katharina Fuchs.