Der Name Hannah Arendt fällt im Literaturbetrieb immer mal
wieder, so dass ich mir schon länger vorgenommen hatte, mich mit dem Namen
hinter der Person zu beschäftigen. Daher sprach mich der Roman „Was wir
scheinen“ von Hildegard E. Keller besonders an. Doch zunächst suchte ich im
Internet nach Fotos, um während des Lesens ein Bild der Protagonistin vor Augen
zu haben. Tatsächlich fand ich ein Video von Hannah Arendt mit ihrem Gespräch
aus 1964 mit Günter Gaus. Danach blieb mir auch ihre Stimme und ihre
Ausdrucksweise beim Lesen ständig präsent.
Hildegard E. Keller zeichnet in ihrem Roman ein detailliertes
Bild von Hannah Arendt. Als Leserin begleitete ich die politische
Theoretikerin, die nie als Philosophin bezeichnet werden wollte, auf ihrer
letzten Reise im Sommer 1975 nach Tegna in der Schweiz. Dort verbringt sie, nur
einige Monate vor ihrem frühen Tod durch Herzinfarkt, einige erholsame Wochen.
Die Autorin wählt einen auktorialen Erzählstil. Immer wieder lässt sie deutlich
werden, wie viel Kraft die Verteidigung ihrer Ansichten Hannah Arendt kostet
und wie sehr sie die Ruhe in Tegna genießt, auch zum Nachdenken. Neben den
alltäglichen Verrichtungen, die Hildegard E. Keller durch ihre Beschreibungen
lebendig gestaltet, lässt sie Hannah Arendt sich an ihre einzelnen Lebensstationen
erinnern, hauptsächlich seit ihrer Immigration mit ihrem zweiten Ehemann
Heinrich Blücher und ihrer Mutter in die USA. Aber immer wieder flackert auch
ein Gedanke an noch frühere Zeiten auf. Dabei werden ihre Meinungen zu
verschiedenen Aspekten deutlich, mit denen sie sich tiefgehend auseinandergesetzt
hat.
Religion war in der Kindheit der Protagonistin nie ein
Thema, aber schon früh fand sie Zugang zu philosophischen Schriften. Wer sich
auf diesem Gebiet auskennt, wird deutlich mehr Freude an diesem Roman haben als
andere Leser. Gerade so wie jeder sich an seine Freunde und Bekannten erinnert,
denkt Hannah an diese nur mit ihrem Vor- oder Spitznamen. Dadurch wurde es für
mich erschwert, ihre Gedanken nachzuvollziehen, da ich nicht immer wusste, welche
Person gemeint war, das erschloss sich mir erst im weiteren Verlauf. Sie kannte
interessante Persönlichkeiten auf mehreren Kontinenten mit denen sie sich gerne
konstruktiv austauschte, was auch in zahlreichen Dialogen im Buch verdeutlicht
wird.
Hanna Arendt war durch ihre eigene Arbeit unabhängig von
Ehepartner und Familie und blieb sich immer selbst treu. Sie vermied es, in der
Öffentlichkeit zu stehen, konnte es aber nicht verhindern, dass sie durch ihre
journalistische Tätigkeit im Rahmen des Eichmann-Prozesses an Bekanntheit
hinzugewann und durch ihre energisch vertretene Meinung heftiger Kritik
ausgesetzt war. Dieser Umstand nimmt im Buch zum Ende hin einen großen Umfang
ein.
Im Roman wird die Handlung immer wieder durch Zitate von
Hannah Arendt unterbrochen, so dass ich mir selbst auch ein Bild ihres klugen
und denkscharfen Wissens machen konnte. Der Buchtitel ist einem ihrer Gedichte
entnommen. Zwischen den drei Kapiteln ist ein Märchen von ihr zu lesen, das
gefüllt ist mit Metaphern und an das sie durch manche Erfahrungen in
Querverbindungen immer wieder erinnert wird.
Hildegard E. Keller zeichnet in ihrem Roman „Was wir sind“
dank ihrer ausgiebigen Recherche ein einfühlsames Portrait der Theoretikerin
Hannah Arendt, in der sie deren Konzepte, Betrachtungsweisen und Auffassungen
zu den verschiedensten philosophischen und politischen Themen herausstellt. Der
Roman ist anspruchsvoll und erfordert einiges an Lesezeit, auch um die
verschiedenen philosophischen Ansichten nachzuvollziehen. Wer sich dem Denken
von Hannah Arendt wie ich gerne annähern möchte, dem empfehle ich gerne diesen
Roman.