„Morgen kann kommen“ ist nicht nur der Titel des Romans von
Ildikó von Kürthy, sondern auch ein Motto der liebenswerten Figur Rudi in der
Geschichte. Er nimmt damit Bezug auf eine gewisse Ordnung im Leben, die Mut
macht und Zuversicht verbreitet. Das Cover ist wieder wunderschön gestaltet mit
einer Illustration von Peter Pichler, der in kräftigen Farben die Sonne am
Horizont aufgehen lässt.
Im Mittelpunkt der Erzählung stehen die beiden Schwestern
Gloria und Ruth. Seit einem Vorfall auf der Hochzeit von Ruth haben die beiden
sich nicht mehr gesehen und nicht mehr miteinander gesprochen. Ruth hält ihre
Schwester für eine Verräterin, für anmaßend und egoistisch. Doch fünfzehn Jahre
später fasst sie Tages den Entschluss einen Neuanfang zu starten und niemand
anderes als Gloria fällt ihr dazu ein, ihr dabei zu helfen. Also macht sie sich
von ihrem Wohnort München aus mit ihrer gerade erst aus dem Tierheim geholten
Dogge auf den Weg nach Hamburg. Dort lebt Gloria, die eine Buchhandlung führt,
im Haus Ohnsorg der verstorbenen Großeltern, in dem sie gerne Zimmer an ihre
Freunde vermietet. Der Grund, der sie entzweit hat, bleibt lange unbesprochen,
aber auf ihre je eigene Weise gelingt es beiden zum Ende der Geschichte hin,
die Wahrheit zu erkennen.
Die 51-jährige Ruth führt ein Leben im Verborgenen, denn das
wird von ihrem Ehemann Karl so gewünscht. Karl ist ein erfolgreicher
Schauspieler. nicht nur im Beruf, sondern auch in der Ehe. Er ist sehr auf sein
Bild in der Öffentlichkeit bedacht. Ein vergessenes Foto in einem Drogeriemarkt
setzt bei Ruth einen Denkprozess ungeahnten Ausmaßes in Gang, bei dem sie eine wechselhafte
Gefühlswelt durchläuft. Sie ist wütend, zornig, traurig und dennoch hat sie
große Zweifel daran, ob die Dinge wirklich so liegen, wie sie vermutet.
Manchmal hatte ich den Eindruck, dass sie auf ihrem Weg zur Entwicklung von
mehr Selbstwert wieder umkehrt und hoffte darauf, dass sie neue anregende Impulse
findet.
Ihre Schwester Gloria ist zwei Jahre älter und hat den
Vorfall, der zum Zerwürfnis geführt hat, ebenfalls nicht vergessen. Ihr Haus
und ihr Herz stehen ihren Freunden offen. Von Jugend an hat sie in der Familie
um eine freie Meinungsäußerung gekämpft und sich Respekt für sich als Person
gewünscht. Sie ist hilfsbereit, was sich momentan unter anderem darin äußert,
dass sie ihrem alten Freund Rudi zur Seite steht, der zu ihr gezogen ist, um
seine letzten Tage im Haus Ohnsorg zu verbringen. Ildikó von Kürthy gibt die
Sorge um ihn bis zum Buchende an ihre Leserschaft weiter. Daher liegt während
des Lesens über allem ein leichter Schatten.
Obwohl der Schreibstil wieder sehr beschwingt ist, überwiegt
die ernste Seite aufgrund des dramatischen Ereignisses in der Vergangenheit der
Geschwister und deren gegenwärtigen Probleme. Aber Glorias guter Freund Erdal,
der aus früheren Büchern der Autorin bekannt ist, liefert erneut durch sein
exzentrisches, selbstironisches und warmherziges Verhalten Heiterkeit. Diesmal
unterzieht er sich einer Fastenkur. Seine Cousine Fatma bringt frischen Wind in
die Handlung und ihre pubertierende Tochter ist einer der Gründe warum Ildikó
von Kürthy dieses schwierige Alter etwas genauer betrachtet.
„Morgen kann kommen“ von Ildikó von Kürthy ist ein Roman
über die Möglichkeit der Neuorientierung im Leben, durchgehend bezaubernd
illustriert von Peter Pichler. Es ist auch eine Aufforderung dazu, seine
Abhängigkeit von anderen Personen zu überdenken und sich von zu hohen
Ansprüchen zu befreien. Das Buch hat mich sehr gut unterhalten und daher
empfehle ich es gerne weiter.