Titel: Denk ich an Kiew
Autorin: Erin Litteken
Übersetzer aus dem amerikanischen Englisch:
Verlag: Lübbe (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag und Leseband
ISBN: 9783785728321
In ihrem Roman „Denk ich an Kiew“ greift die US-Amerikanerin
Erin Litteken das Thema des „Holodormor“, die Hungersnot in den 1930er Jahren
in der Ukraine auf. Die Geschichte spielt auf zwei Zeitebenen über mehrere
Generationen hinweg. Im Jahr 2004 steht die vor einem Jahr verwitwete Journalistin
Cassie im Fokus der fiktiven Ereignisse. Sie schafft es kaum, über den Unfalltod
ihres Ehemanns hinweg zu finden. Ihre Mutter schlägt vor, dass sie für eine
Weile zu ihrer hochbetagten Großmutter Bobby nach Illinois ziehen soll, die sich
in letzter Zeit seltsam verhält. Bobby wurde im Südwesten der Ukraine in einem
kleinen Dorf geboren, das zur Oblast Kiew gehört.
Das Cover finde ich schön ausgestaltet mit den dunklen
Wolken am Himmel, die für die bedrohenden Schatten stehen, die über der
Kornkammer Europas liegen. Andererseits geben die Sonnenstrahlen Hoffnung auf
eine freudige Zukunft für das Land.
Die Kapitel wechseln sich über die beiden Zeitebenen hinweg
ab. Die Autorin schildert Begebenheiten in der Ukraine, wie sie sich im Zeitraum
zwischen 1929 und 1934 tatsächlich ereignet haben könnten. Die anfangs
16-jährige Katja ist dabei die Hauptfigur. Ihre Familie und ihre Freunde sind
Heimat für sie und bedeuten ihr alles. Mir wurde bald klar, dass Bobby identisch
mit Katja sein muss.
Ihre fünfjährige Tochter Birdie, die bei dem Unfall des
Vaters dabei war und seitdem nicht mehr spricht, gibt Cassie Sinn im Leben. An
dem von der Familie angemieteten Haus in Wisconsin hält sie nur fest, weil sie
die frühere Routine im Alltag darin weiterleben kann. Zum Schreiben fehlt ihr
die Konzentration. Nur widerstrebend folgt sie dem Vorschlag ihrer Mutter für
den Umzug zu Bobby.
Die Autorin schildert diesen Teil der Geschichte sehr
feinsinnig. Sie lässt Cassie langsam die verschiedenen Phasen der Trauer
durchlaufen. Parallel dazu hat die Protagonistin das nahende Lebensende ihrer
Großmutter zu verarbeiten. Bobby versteht es auch jetzt noch, ihre Enkelin für
die Dinge zu begeistern, die sie selbst geliebt hat und ihren Lebensmut
weiterzugeben.
Von ihrer Jugend hat sie nie gesprochen. Die Jahre als junge
Frau waren für Bobby, die in der Ukraine Katja gerufen wurde, von harter Arbeit
erfüllt. Nach dem politischen Diktat zur Kollektivierung wurde es für die
Familie auf dem Gehöft immer schwerer, sich den Anweisungen zu widersetzen. Die
Oblast wurde schließlich von einer Hungernot überzogen, die unvorstellbare
Ausmaße annahm. Katja als lautere Person zeigt Missfallen an bestimmten
Handlungen, kann sich ihnen aber nicht entziehen. Ein Tagebuch hilft ihr dabei,
das Geschehene nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Die Autorin hat selbst Vorfahren aus der Ukraine, wodurch
sie auf den Holodomor aufmerksam wurde. Aufrüttelnd und bewegend sind die von
ihr geschilderten Begebenheiten, die auf Fakten beruhen und daher besonders zu
Herzen gehen und in Erinnerung bleiben. Das auffällige Verhalten von Bobby
wurde dadurch verständlich. Tragisch ist auch der weitere Verlauf ihrer
Lebensgeschichte und umso bewundernswerter ihre Kraft zum Überleben und der
Glaube an eine glücklichere Zukunft.
In ihrem Roman „Denk ich an Kiew“ erzählt Erin Litteken von
dem berührenden erdachten Schicksal der Ukrainerin Katja, die die schwere
Hungersnot in den 1930er erlebt und später in die USA ausgewandert ist. Ihre
Enkelin Cassie hat ihr eigenes Päckchen zu tragen, doch gegenseitig können sie
einander stützen. Trauer und Leid, aber auch Hoffnung und Liebe sind die
Zutaten des Romans, der mich als Lesende aufwühlte und betroffen machte. Gerne
empfehle ich das Buch weiter.