Titel: Findelmädchen
Autorin: Lilly Bernstein
Erscheinungsdatum: 28.07.2022
Verlag: Ullstein (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Taschenbuch
ISBN: 9783548065687
Der historische Roman „Findelmädchen“ von Lilly Bernstein
brachte mich zeitlich gesehen zurück in die 1950er Jahre. Das Cover zeigt im
Hintergrund den Kölner Dom. In dieser Stadt am Rhein erwartet der leibliche
Vater der 15 Jahre alten Helga nach der Rückkehr aus seiner
Kriegsgefangenschaft seine Tochter und seinen Sohn Jürgen. Was zunächst für die
beiden Kinder, wie es im Untertitel heißt, ein „Aufbruch ins Glück“ sein
könnte, erweist sich vor allem für Helga als steiniger Weg.
Helga und Jürgen können sich kaum an die Zeit kurz nach dem
Ende des Zweiten Weltkriegs erinnern: sie wussten nicht, wo ihre Eltern sind. Mit
anderen elternlosen Kindern lebten sie in Köln in schlimmen Verhältnissen.
Eines Tages findet ein französisches Paar dort ihren Sohn wieder, einen Freund
der Geschwister. Das Paar nimmt Helga und Jürgen mit in die Heimat und
behandelt sie wie eigene Kinder.
Viele Jahre später erreicht die beiden eine positive Antwort
auf eine Suchanfrage ihres Pflegevaters nach ihrem leiblichen Vater. Beide
freuen sich auf die Heimkehr nach Köln. Helgas Vater meldet seine Tochter auf
der Hauswirtschaftsschule an. Zur Ausbildung gehört auch ein Praktikum, das
Helga im Waisenhaus absolviert. Es erschreckt sie, wie die Kinder dort
behandelt werden. Besonders Bärbel, ein Kind mit etwas dunklerer Hautfarbe,
wird häufig schikaniert. Helga versucht es zu schützen, und verzweifelt fast an
ihrer eigenen Machtlosigkeit. Auch in Sachen Liebe fühlt sie sich zuweilen
hilflos.
Lilly Bernstein thematisiert in ihrem Roman die Verhältnisse
im Kinderheim in den 1950ern. Seit einer eigenen Reportage vor einigen Jahren
beschäftigt sie sich immer wieder damit. Sie hat Gespräche mit Betroffenen
geführt und erzählt darüber in bewegender Weise. Trotz der Gängelung erwähnt
sie aber auch, dass Kinder manchmal das Leben im Waisenhaus gerne mochten, weil
es für sie die beste Alternative war.
Im Roman werden die Ansichten der 1950er über Erziehung
deutlich, sich von den heutigen unterscheiden und die auch erkennbar sind in
der Entscheidung des Vaters, Helga den Besuch des Gymnasiums zu verweigern.
Damals hielt man eine Ausbildung für Frauen oft für überflüssig, weil sie nach
ihrer Heirat keiner Arbeit nachgehen, sondern sich ausschließlich um den
Haushalt kümmern sollte. So sah es das Gesetz vor.
Berührend ist auch das Schicksal von Bärbel, einem
sogenannten „Brown Baby“, also ein von einer deutschen Mutter geborenes
Besatzungskind mit afroamerikanischem Vater, für die besondere Regelungen vom
Staat getroffen wurden. Auf verschiedene Weise versteht es die Autorin,
tagesaktuelle Nachrichten in das Geschehen einzubringen. Über eine Freundin der
Familie, die eine Milchbar betreibt, bindet Lilly Bernstein dank einer Musikbox
auch damals bekannte Songs in die Geschichte ein. Unwichtige Details in
Handlungssträngen lässt sie bisweilen weg.
Helga ist hilfsbereit, anpassungsfähig, wissbegierig und
arbeitet so wie ihr Vater und ihr Bruder viele Stunden am Tag. Für Freizeit
bleibt kaum Spielraum, wenn, dann meist am Sonntag. In der Vergangenheit von
Helgas Eltern gibt es ein Geheimnis, das der Vater lange zu verbergen weiß. Die
Familienmitglieder untereinander schweigen sich häufig aus, dadurch unterbleibt
ein offener Umgang miteinander, wie es früher häufiger vorkam. Dank eines
dramaturgischen Kniffs konnte ich als Leserin fortlaufend bis zum Ende des
Romans mehr über das Schicksal der Mutter von Helga und Jürgen erfahren.
Im Roman „Findelmädchen – Aufbruch ins Glück“ belebt Lilly
Bernstein aka Lioba Werrelmann den Zeitgeist der 1950er Jahre. Für ihre
15-jährige Protagonistin bedeutet die Heimkehr aus Frankreich nach Köln, die Vorbereitung
auf ein selbstbestimmtes Leben. Dafür riskiert sie einiges und setzt sich,
trotz möglicher Konsequenzen für sie selbst, für andere ein. Mit der Zeit
erwacht in ihr die Sehnsucht nach Liebe und Vertrauen. Es ist erschütternd
darüber zu lesen, dass die Konventionen und Regeln nicht immer im Sinne der
Hauptfigur zum Tragen kommen. Gerne empfehle ich das Buch weiter.