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Montag, 15. August 2022

Rezension: Findelmädchen - Aufbruch ins Glück von Lilly Bernstein

 


Rezension von Ingrid Eßer

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Titel: Findelmädchen
Autorin: Lilly Bernstein
Erscheinungsdatum: 28.07.2022
Verlag: Ullstein (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Taschenbuch 
ISBN: 9783548065687
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Der historische Roman „Findelmädchen“ von Lilly Bernstein brachte mich zeitlich gesehen zurück in die 1950er Jahre. Das Cover zeigt im Hintergrund den Kölner Dom. In dieser Stadt am Rhein erwartet der leibliche Vater der 15 Jahre alten Helga nach der Rückkehr aus seiner Kriegsgefangenschaft seine Tochter und seinen Sohn Jürgen. Was zunächst für die beiden Kinder, wie es im Untertitel heißt, ein „Aufbruch ins Glück“ sein könnte, erweist sich vor allem für Helga als steiniger Weg.

Helga und Jürgen können sich kaum an die Zeit kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erinnern: sie wussten nicht, wo ihre Eltern sind. Mit anderen elternlosen Kindern lebten sie in Köln in schlimmen Verhältnissen. Eines Tages findet ein französisches Paar dort ihren Sohn wieder, einen Freund der Geschwister. Das Paar nimmt Helga und Jürgen mit in die Heimat und behandelt sie wie eigene Kinder.

Viele Jahre später erreicht die beiden eine positive Antwort auf eine Suchanfrage ihres Pflegevaters nach ihrem leiblichen Vater. Beide freuen sich auf die Heimkehr nach Köln. Helgas Vater meldet seine Tochter auf der Hauswirtschaftsschule an. Zur Ausbildung gehört auch ein Praktikum, das Helga im Waisenhaus absolviert. Es erschreckt sie, wie die Kinder dort behandelt werden. Besonders Bärbel, ein Kind mit etwas dunklerer Hautfarbe, wird häufig schikaniert. Helga versucht es zu schützen, und verzweifelt fast an ihrer eigenen Machtlosigkeit. Auch in Sachen Liebe fühlt sie sich zuweilen hilflos.

Lilly Bernstein thematisiert in ihrem Roman die Verhältnisse im Kinderheim in den 1950ern. Seit einer eigenen Reportage vor einigen Jahren beschäftigt sie sich immer wieder damit. Sie hat Gespräche mit Betroffenen geführt und erzählt darüber in bewegender Weise. Trotz der Gängelung erwähnt sie aber auch, dass Kinder manchmal das Leben im Waisenhaus gerne mochten, weil es für sie die beste Alternative war.

Im Roman werden die Ansichten der 1950er über Erziehung deutlich, sich von den heutigen unterscheiden und die auch erkennbar sind in der Entscheidung des Vaters, Helga den Besuch des Gymnasiums zu verweigern. Damals hielt man eine Ausbildung für Frauen oft für überflüssig, weil sie nach ihrer Heirat keiner Arbeit nachgehen, sondern sich ausschließlich um den Haushalt kümmern sollte. So sah es das Gesetz vor.

Berührend ist auch das Schicksal von Bärbel, einem sogenannten „Brown Baby“, also ein von einer deutschen Mutter geborenes Besatzungskind mit afroamerikanischem Vater, für die besondere Regelungen vom Staat getroffen wurden. Auf verschiedene Weise versteht es die Autorin, tagesaktuelle Nachrichten in das Geschehen einzubringen. Über eine Freundin der Familie, die eine Milchbar betreibt, bindet Lilly Bernstein dank einer Musikbox auch damals bekannte Songs in die Geschichte ein. Unwichtige Details in Handlungssträngen lässt sie bisweilen weg.

Helga ist hilfsbereit, anpassungsfähig, wissbegierig und arbeitet so wie ihr Vater und ihr Bruder viele Stunden am Tag. Für Freizeit bleibt kaum Spielraum, wenn, dann meist am Sonntag. In der Vergangenheit von Helgas Eltern gibt es ein Geheimnis, das der Vater lange zu verbergen weiß. Die Familienmitglieder untereinander schweigen sich häufig aus, dadurch unterbleibt ein offener Umgang miteinander, wie es früher häufiger vorkam. Dank eines dramaturgischen Kniffs konnte ich als Leserin fortlaufend bis zum Ende des Romans mehr über das Schicksal der Mutter von Helga und Jürgen erfahren.

Im Roman „Findelmädchen – Aufbruch ins Glück“ belebt Lilly Bernstein aka Lioba Werrelmann den Zeitgeist der 1950er Jahre. Für ihre 15-jährige Protagonistin bedeutet die Heimkehr aus Frankreich nach Köln, die Vorbereitung auf ein selbstbestimmtes Leben. Dafür riskiert sie einiges und setzt sich, trotz möglicher Konsequenzen für sie selbst, für andere ein. Mit der Zeit erwacht in ihr die Sehnsucht nach Liebe und Vertrauen. Es ist erschütternd darüber zu lesen, dass die Konventionen und Regeln nicht immer im Sinne der Hauptfigur zum Tragen kommen. Gerne empfehle ich das Buch weiter.