Rezension von Ingrid Eßer
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Im
Roman „Das Wunder von Bahnsteig 5“ der Engländerin Clare Pooley nutzen sechs
Zugpendler und -pendlerinnen mehr oder weniger regelmäßig einen Zug Richtung
Waterloo Station in London. Eines Tages beginnen sie miteinander zu
kommunizieren. Das ist ungewöhnlich, denn eine der Regeln der ungeschriebenen
Gesetze bei den Zugfahrenden lautet, dass man nicht mit Fremden spricht. Das
Cover zeigt eine typische Situation auf einem Bahnsteig: Jeder bleibt
für sich allein, wenn er nicht gerade mit Freunden oder Verwandten reist. Die
Autorin zeigt in der Geschichte, was passieren kann, wenn man die oben erwähnte
Regel bricht.
Eine
der Protagonistinnen ist Iona. Sie ist Mitte 50 und die bekannte Ratgeberin
einer Zeitschriftenkolumne. An ihrer Seite ist immer ihre Französische
Bulldogge Lulu. Iona freut sich über die Privatsphäre, die sie inmitten der
Öffentlichkeit im Zug genießen kann. Eines Tages droht ein Passagier an einer
Traube zu ersticken, sie und andere versuchen auf verschiedene Weise zu helfen.
Aus dem Notfall wird ein Kennenlernen sehr unterschiedlicher Charaktere, das zu
Freundschaften führt.
Die
Kapitel wechseln zwischen den dann im Mittelpunkt stehenden Hauptfiguren ab.
Neben Iona zählt dazu der Krankenpfleger Sanjay. Er ist genauso wie die bei
einer Marketingagentur arbeitende Emmie Ende 20. Der ehemalige Broker Piers ist
Anfang 40. Die Schülerin Martha ist in diesem Kreis die Jüngste. Die Autorin
baut im Roman zunächst die Freundschaften untereinander auf. Jeder und Jede
zeigt sich dabei von einer guten Seite.
Während
sich die Geschichte entfaltet, durfte ich ein wenig hinter die Fassade der
einzelnen Personen schauen, denn Alle tragen ein Geheimnis bei sich. Iona
spricht nicht über ihren bröckelnden Ruhm und den Kummer um ihre Frau, Piers
nicht über seine Finanzprobleme. Emmie ist verliebt in ihren Partner und sieht
darüber hinweg, dass er sie vereinnahmt. Sie bemerkt Sanjays wachsende Zuneigung
zu ihr. Sanjay leidet nicht nur unter ihrer Ablehnung, sondern auch unter den
Anforderungen an seinen Beruf, während Martha von einem Freund ausgenutzt und
dadurch diskreditiert wurde. Mit und mit lüftet Clare Poole den Schleier, der
die Realität der Protagonisten und Protagonistinnen umhüllt, auch für die
Freunde untereinander.
Auch
in ihrem zweiten Roman schreibt die Autorin über Begebenheiten, wie sie auch in
der Realität hätten stattfinden können. Mich faszinierte dabei vor allem das
Zusammenspiel der angenehmen und unsympathischen Seiten ihrer Hauptfiguren, die
sich aufgrund von Erfahrungen und Gesprächen mit den neuen Bekannten
weiterentwickelten. Als frühere Teilhaberin einer Marketingagentur brachte die
Autorin eigenes Wissen und Ansichten aus ihrem Beruf in die Erzählung rund um
ihre Protagonistin Emmie ein. Weitere Erfahrungen aus ihrem Leben schenken
Hintergrundgeschichten ihrer Figuren Authentizität. Sie weiß sich in ältere
Personen ebenso einzufühlen wie in jüngere und beschreibt treffend deren
Lebenswelten. Immer wieder kommt es trotz gewisser Dramen zu amüsanten Szenen,
die sich teilweise daraus entwickeln.
Clare
Pooley füllt ihren Roman „Das Wunder von Bahnsteig
5“ mit wunderbar abwechslungsreich gestalteten Figuren, die jeweils ihre eigenen
Sorgen haben, sie aber zunächst voreinander verbergen. Erst als sie das übliche
Schweigen von Zugreisenden brechen, lernen sie einander kennen, respektieren
und füreinander da zu sein. Gerne empfehle ich die warmherzige, feinfühlig
erzählte Geschichte uneingeschränkt weiter.