Autorin: Natasha Pulley
Übersetzer aus dem Englischen: Jochen Schwarzer
Verlag: Klett-Cotta (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag
Im Roman „Der Leuchtturm an der
Schwelle der Zeit“ lässt die britische Autorin ihren Protagonisten Joe im 19.
Jahrhundert alternative Zeitgeschichte erleben. Im Original heißt der Roman
„The Kingdoms“ und er trifft genau wie der deutsche Titel den Kern der
Erzählung. Zum einen steht ein Portal zum Zeitreisen, das sich in der Nähe
eines Leuchtturms befindet, im Fokus, andererseits erfasst die englische
Bezeichnung die Besonderheit, dass kleine Veränderungen in der Weltgeschichte aufgrund
von Ränkespielen sowie Schlachten zu Lande und zur See zu dramatischen
Verschiebungen der politischen Situation in den Königreichen von
Großbritannien, Frankreich und Spanien führen können. Bei Zeitreisen in beide
Richtungen ergeben sich dadurch jedes Mal neue Umstände.
Joe findet sich an einem Morgen
des Jahres1898 an einem Londoner Bahnsteig wieder. Er kann sich zwar an seinen
Namen erinnern, aber nicht an seine Vergangenheit. Einzig eine Frau mit dem
Namen Madeline fällt ihm ein. Sein Gedächtnis wird in einer Klinik untersucht,
die eine Suchanzeige für ihn aufgibt. Nach einiger Zeit meldet sich dort ein
fein gekleideter Mann, der behauptet sein Herr zu sein. Die ihn begleitende jungen
Frau behauptet, mit ihm verheiratet zu sein. Einige Monate später erhält er von
seinem Herrn die wohlverdiente Freiheit.
Wenige Zeit danach trifft ein mysteriöser
Brief ein, der 93 Jahre vorher bei der Post aufgegeben wurde. Er enthält eine
Postkarte mit einem Leuchtturm vor der Küste Schottlands und der Aufforderung,
nach Hause zu kommen, wenn er sich erinnert. Der Appell ist mit einem einfachen
M unterschrieben. Zwei Jahre später ergreift Joe die Gelegenheit und meldet
sich, als ein Techniker zur Reparatur eben jenes Leuchtturms gesucht wird.
Bestimmt wird er bald wieder mit Madeline vereint sein, die nach seiner
Vermutung seine frühere Geliebte war.
Natasha Pulley zeigt auf
faszinierende Weise wie das Verhalten bereits einer einzelnen Person sich auf
das große Spiel der Mächtigen auswirken kann. Joe droht sich aufgrund seiner
Amnesie selbst zu verlieren. Von Anfang an spürt er eine innere Sehnsucht und
obwohl er sich an wenig erinnert, verblasst diese nie. Auch eine glückliche
Gegenwart kann ihm nicht sein tiefes Verlangen nehmen. Er macht sich auf die
Suche nach dem, was er verloren zu haben scheint und findet sich in einer
Umgebung wieder, die ihm fremd ist und sich doch bekannt anfühlt.
Neben der Figur des Joe, der
viele Facetten zeigt, glänzt vor allem der Charakter des Kapitäns Missouri
Kite. An Bord seines Schiffs lernt Joe dessen Härte gegenüber seiner Mannschaft
und die Unwägbarkeiten der See kennen. Während Joe sich entsprechend seiner
Rolle, die ihm die weltgeschichtlichen Ereignisse zuweisen, verändert, zeigt
Kite seine wechselhaften Seiten in Abhängigkeit von seiner Stellung und seinen
Erfahrungen. Natasha Pulleys Frauenfiguren wirken eigenständig, obwohl sie
ihrer Zeit entsprechend schlechte Anerkennung finden.
Dank sehr guter Recherche
beschreibt die Autorin das Leben an Bord eines Schlachtschiffes vorstellbar mit
all ihren Härten, die nicht nur im Kampf bestehen, sondern auch beim
Wachdienst, dem Segelsetzen und dem Plankenschrubben auf Hoher See. Es finden
sich an Bord weitere interessante Figuren, die durch ihre Entwicklung zu losen
Enden in der Geschichte beitragen, die über die Zeiten hinweg zum Ende hin von
der Autorin zusammengefügt werden.
„Der Leuchtturm an der Schwelle
der Zeit“ ist eine Steampunk-Fantasy von Natasha Pulley, die hierin mit der
Möglichkeit der Zeitreise spielt. Sie zeigt, wie heftig das Verlangen sein
kann, der Liebe zu folgen, die tief im Inneren verwurzelt ist, und dafür alles
zurückzulassen, was inzwischen an Wichtigkeit gewonnen hat. Erst zum Schluss
zeigt sich im Rückblick, wie gekonnt die Autorin die einzelnen Aspekte ihrer
Geschichte zusammengefügt. Gerne empfehle ich das Buch an alle Fantasy-Lesende
mit Interesse an Weltgeschichte weiter.