„Das dritte Land“ ist einer der Haupthandlungsorte im
gleichnamigen Roman von Karina Sainz Borgo. Damit ist, metaphorisch gemeint,
ein Bereich zwischen zwei gegensätzlichen Orten wie beispielsweise inmitten des
Diesseits und der jenseitigen Welt gemeint. In der Geschichte hat Visitación Salazar, eine der beiden
Protagonistinnen, eine illegale Begräbnisstätte an der nordwestlichen Grenze Venezuelas als Drittes Land bezeichnet.
Hier bestattet sie für einen kleinen Obulus oder auch kostenlos die Toten, die
sonst keine würdige Besetzung erhalten. Sie stellt sich damit dem Widerstand
derjenigen entgegen, die sich in ihrem Umfeld Macht angeeignet haben. Das Cover
des Buchs zeigt Grabkammern, wie Visitiación sie auf schlichtere Art benutzt.
Angustias Romero, die zweite Protagonistin, ist verheiratet,
besitzt ihr eigenes Friseurgeschäft und hat erst vor kurzem mit Zwillingen
entbunden. Die Familie lebt in einem Tal, das von immer mehr Bewohnern
verlassen wird. Dort breitet sich die Pest immer mehr aus, die zum Vergessen
führt. Angustias beschließt aus Angst zu fliehen. Ihre Kinder sind den
Strapazen der Reise nicht gewachsen und das Ehepaar verliert alles Geld und die
Pässe. Durch Zufall erfährt Angustias von Visitiación. Erschöpft von den vergangenen Tagen und Wochen hat sie nur
noch den Wunsch, in der Nähe ihrer begrabenen Söhne zu bleiben. Nach einer
ersten Skepsis ist Visitación
damit einverstanden und bindet sie schon bald in ihre Tätigkeiten ein.
Der Begriff Pest wird im Roman synonym zu dem der Seuche
verwendet. Nach den Erfahrungen während der CoronaZeit konnte ich die Angst von
Angustias gut nachvollziehen. Allerdings lebt sie in einem überaus korrupten
Land. Sie verlässt mit ihrer Flucht vertrautes Terrain und begibt sich auf die
Suche nach einer neuen Heimat, die ihr und ihrer Familie vor allem einen
gesicherten Lebensstandard bieten soll. Die Reise zeigt ihr, dass es fast
unmöglich ist, einen solchen Ort zu finden. Die anpackende Art von Visitiación verdient ihren Respekt und
Bewunderung. Die fast 60-jährige scheint vor nichts und niemandem Angst zu
haben und stellt sich Gefahren beherzt und manchmal mit großer Klappe entgegen.
Aber Angustias spürt die Gütigkeit der Bestatterin, die für die Gerechtigkeit einfacher
Leuten kämpft. Karina Sainz Borgo zeigte mir als Leserin auch die verletzliche
Seite von Visitiación.
Die Geschichte wird zum Teil von Angustias erzählt und dadurch
kam ich ihren Gefühlen nah. Die von ihr geschilderten Begebenheiten wechseln
sich ab mit solchen, in denen die Autorin als allwissende Erzählerin von der
Macht, Gier und Bestechlichkeit der Regierenden, ihren Untergebenen sowie denen
berichtet, die danach trachten es ihnen gleich zu tun. Der Tod gehört zum Alltag
und wird als Folge einer Handlung in Kauf genommen statt, denn Leben erscheint
für Zartbesaitete nicht geeignet. Karina Sainz Borgo ist in Venezuela
aufgewachsen. Der Ort, an dem Visitiación
wohnt ist nicht genau benannt und steht für jede beliebige Gegend unweit der
Grenze zu Kolumbien. Beispielhaft gelingt es ihr, Missstände im Land
aufzuzeigen. Viele BürgerInnen haben sich damit arrangiert und versuchen sich
vor terrorisierenden Gruppierungen in Acht zu nehmen und unauffällig zu
bleiben.
Die Beschreibungen der Autorin sind eindringlich. Ich werde mich nach dem Lesen des Romans „Das dritte Land“ von Karina Sainz Borgo noch länger an die Hitze, den Staub und die Ausweglosigkeit der BewohnerInnen auf die baldige Besserung der Lebensverhältnisse erinnern. Zurück bleibt aber auch die Hoffnung auf Menschen wie Visitiación, die sich mit ihrem Verhalten für Menschlichkeit und Rechtschaffenheit einsetzen. Gerne empfehle ich diesen ergreifenden Roman weiter.