Titel: Maman
Autorin: Sylvie Schenk
Erscheinungsdatum: 20.02.2023
Verlag: Hanser (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN: 9783446276239
Sylvie
Schenk hat in ihrem Buch „Maman“ eine Romanform entwickelt, mit der sie
versucht, sich der Persönlichkeit ihrer längst verstorbenen Mutter Renée zu
nähern. Deren Herkunft blieb der Tochter zeitlebens ein Rätsel.
Erst durch
die Recherche ihrer Schwester erfuhren sie den Namen ihrer Großmutter Cécile, einer
Arbeiterin in einer der Fabriken zur Seidenherstellung in Lyon, die unter der
Geburt im Jahr 1916 verstarb. Sie wurde nur 45 Jahre alt. Der Vater von Renée
ist unbekannt. Einige Jahre lang wuchs die Mutter der Autorin mit wenig Liebe
auf dem Land auf, bevor sie von einem gut betuchten Ehepaar in Pflege genommen
wurde. Dennoch hat sie aufgrund ihrer unklaren Abstammung nie die gewünschte
Anerkennung in ihrer Schwiegerfamilie gefunden.
In ihrer
Fantasie blickt die Autorin ihren Vorfahren über die Schulter. Auf diese Weise malt
sie sich Situationen aus, die ihre Großmutter Cécile und ihre Mutter erlebt
haben und lässt sie für den Lesenden lebendig werden. Sie stellt sich das
Sterben ihrer Großmutter vor und ergründet in diesem Zusammenhang das Umfeld,
in dem Cécile gelebt hat.
Sylvie
Schenk versetzt sich in die Gefühlswelt ihrer Mutter, erkundet ihr Schweigen,
ihre Ansprüche bis hin zur Vorstellung ihres Liebeslebens. Die ersten Jahre bleiben
im Dunkeln, weil Renée verdrängt, was ihr widerfahren ist. Aber dennoch bleibt
das Erlebte tief in ihr, denn es lässt sich nicht ungeschehen machen. Für ihre
neue Pflegemutter ist es schwierig, ihr Sicherheit zu vermitteln und ihr
Vertrauen zu gewinnen. Die seelischen Wunden heilen langsam.
Untrennbar
ist das Leben von Renée mit dem ihrer Kinder verbunden, die sich von ihr wenig
geliebt fühlten. Sie hat durch Erfahrung oder Beobachtung gelernt, wie man sich
wann verhält, aber nicht, wie man Freude vermittelt. Wenn sie eine Meinung
kundtat, auch gegenüber dem Dienstmädchen und dem Vater, empfanden die
Geschwister sie oft als ungerecht.
Es gelingt
der Autorin nicht, alle Schleier über dem Leben der Mutter zu lüften wie
beispielsweise Teile eines von der Familie als Fauxpas bezeichneten Ereignisses.
Dabei verbleibt ein Spielraum für eine weitere Facette, die jedes der Kinder nach
eigener Vorstellung füllt. Die innere Zerrissenheit der Mutter zwischen Pflicht
und der Suche nach Identität begleitet sie ein Leben lang.
In ihrem Roman „Maman“ nähert sich Sylvie Schenk anhand ihrer eigenen und der Erinnerungen ihrer Verwandtschaft einem Bild ihrer Mutter an, das sie mit ihrer Fantasie ausgemalt, aber dennoch nicht vollständig sein kann. Eine Recherche führt sie über einhundert Jahre in der Zeit zurück und verbindet sich mit der Familiengeschichte über Jahrzehnte hinweg. Es war ein aufwühlendes und bewegendes Lesen für mich, während ich mehr über die Autorin und ihrer Angehörigen erfahren durfte. Gerne empfehle ich das Buch weiter.