Rezension von Ingrid Eßer
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In ihrem Roman „Lieblingstochter“ erzählt Sarah
Jollien-Fardel die fiktive Geschichte von Jeanne, der jüngeren Schwester der
titelgebenden Person, die ebenso wie diese in ihrer Kindheit unter der Gewalt
des Vaters gelitten hat. Jeanne ist in einem kleinen Dorf im Wallis, einem
Kanton der Schweiz, aufgewachsen. Sie schildert als erwachsene Ich-Erzählerin
ihre Vergangenheit in Rückblicken.
Jeannes Vater war als Fernfahrer häufig mehrere Tage
unterwegs. Wenn er aber zu Hause war, ließ er seinen ständigen Frust an seiner Frau
und der älteren Tochter aus und wurde übergriffig. Darum haderte Jeanne schon
als Kind mit dem Gedanken, dass sie eher wie er wäre. Aber so wollte sie nicht
sein. Ein gezeichneter Tiger und ein unbedachtes Wort ließen sie dann jedoch
ebenfalls den Zorn des Vaters spüren.
Das Titelbild zeigt die innere Zerrissenheit der
Protagonisten und ihr Leben, das durch die erfahrene Gewalt in Scherben liegt. Erst
im Laufe der Zeit beginnt sie, Verständnis für das Verhalten ihrer Mutter
aufzubringen, für die die Trennung vom Ehemann und damit auch Jeannes Entkommen
der wörtlichen und körperlichen Misshandlungen, nie in Frage kam. Später glaubt
Jeanne immer wieder, Einzelheiten im Charakter ihres Vaters an sich selbst zu
erkennen.
Bildung ist der einzige Ausweg aus dem Elternhaus, den sie
sieht. Obwohl es kaum zu glauben ist, gelingt es ihr mit der Hilfe der Mutter
und einer Lehrerin eine weiterführende Internatsschule besuchen zu können. Erst
sehr viel später erfährt sie, wer ihr die finanzielle Möglichkeit dazu gegeben
hat. Die Übergriffe, die sie, ihre Mutter und ihre Schwester erfahren, sind
nicht immer vor anderen zu verbergen wie beispielsweise den Einwohnern des Orts,
aber keiner schreitet ein, was Jeanne noch im Erwachsenenalter wütend macht und
sie nicht verzeihen kann.
Die Autorin schildert die Exzesse nicht ausschweifend, es
reichen wenige pointierte Sätze, um sich als Lesende die anwidernden Szenen
bildhaft vorzustellen. Die Gefühle von Jeanne sind nachvollziehbar, auch die
Überlegungen, warum sie sich zu der Person entwickelt hat, die sie nun ist. Im
Rückblick hinterfragt sie ihre Partnerschaften und man spürt auch, dass sie
willens ist eine reine, klare Liebe zu geben und zu erfahren, was aber durch
ihre Zweifel erschwert ist.
„Lieblingstochter“ ist ein Roman mit vielen Tiefen und
Szenen, die beim Lesen schmerzen und den inneren Zwiespalt der Gefühle der
Protagonistin nachvollziehbar machen. Eine traurig schöne Erzählung, die
nachhallt und ich daher empfehle. Die Geschichte ist eher nicht für empfindsame
Personen geeignet.