Gittersee liegt im Südwesten von Dresden und ist
Handlungsort des gleichnamigen Romans von Charlotte Gneuß. Nicht nur das Foto
auf dem Umschlag, sondern auch die Erzählung gab mir als Leserin einen Einblick
in das Leben einer Familie, Mitte der 1970er Jahre. In einem kurzen Prolog, in
dem geschildert wird, das einer Person etwas zugestoßen ist, wurde ich
neugierig darauf, um wen es sich handelt und wie es geschehen ist, was eine
gewisse Hintergrundspannung während des gesamten Lesens erzeugt.
Die Protagonistin Karin ist 16 Jahre alt und geht noch zur
Schule. Ihre Mutter war noch jung, als sie mit ihr schwanger wurde und sie hat vor
zwei Jahren nochmals Nachwuchs bekommen. Der Haushalt wird von der hinfälligen
Mutter des Vaters geführt, während die Eltern beide in Vollzeit arbeiten. Karin
hilft mit Selbstverständlichkeit überall, wo die Familie sie braucht. Ihr
Alltag wird gestört, als ihr Freund Paul eines Tages von einem Ausflug nicht
wiederkehrt. Daraufhin steht die Polizei vor der Tür ihres Zuhauses und hat
eindringliche Fragen an sie, ob sie von Pauls Plänen gewusst hat, der
vermutlich aus der Republik geflohen ist.
Karins Leben lief in geordneten Bahnen. Der Kapitalismus im
Westen wurde zwar immer wieder, meist in der Schule beschimpft, aber die
Teilung Deutschlands hatte für sie persönlich keine Wichtigkeit. Von ihrer
Mutter erfährt Karin, dass es Personen gibt, die raus wollen aus dem biederen
Umfeld, das eingesponnen ist in die sozialistischen Ideen des Staats. Sie
bemerkt es außerdem an den fliegenden Ideen ihrer besten Freundin Marie.
Charlotte Gneuß flicht in die Freundschaft der beiden Mädchen Eifersucht ein.
Immer wieder wendet sich der Polizist mit weiteren Fragen an
die Protagonistin und untergräbt damit die Leichtigkeit, mit der sie ihren
Alltag meistert. Sie beginnt über Vergangenes nachzudenken und darüber, ob
liebgewonnene Menschen ihr tatsächlich stets wohlgesonnen waren und sind. Der
Verlust von Paul nagt an ihr und die Umstände seines Verschwindens werden für
sie zunehmend zu einem Puzzle mit vielen Teilen ohne Hoffnung darauf, es
zusammenfügen zu können. Erst allmählich wird ihr bewusst, dass ihre Aussagen
Konsequenzen für andere Personen haben.
Beim Lesen fühlte ich mich kulturell zurückversetzt in die
1970er Jahre. Obwohl ich im Westen aufgewachsen bin, wusste ich durch einen
langjährigen Briefwechsel mit einer Freundin im Osten unseres Landes unmittelbar
um die ideologischen Unterschiede und empfand die Schilderungen der Autorin als
authentisch. Die Autorin beschreibt Träume und Wünsche, nicht nur von
Jugendlichen und den Willen dazu, diese zu verwirklichen, aber genauso die
eingeschränkten Möglichkeiten der Realität, sie zu erreichen. Sie lässt ihre
Figuren auf verschiedene Weise mit Frust umgehen und stellt manches geschickte
Taktieren dar, um Ziele zu erreichen.
In ihrem Roman „Gittersee“ erzählt Charlotte Gneuß vom
Erwachsenwerden im Osten Deutschlands während der 1970er Jahre. Sie zeigt
anhand ihrer 16-jährigen Protagonisten den Prozess des Bewusstwerdens der
eigenen Situation und Schritte der psychosozialen Reifung auf. Ich habe die
Geschichte mit Interesse gelesen und empfehle sie daher gerne weiter.