Die Norwegerin Vigdis Hjorth thematisiert in ihrem Roman
„Die Wahrheiten meiner Mutter“ das toxische Verhältnis der Künstlerin Johanna
zu ihrer betagten Mutter. Die Protagonistin hat als junge Frau in ihrem
Geburtsland Norwegen einen Skandal in ihrer Familie verursacht, weil sie ihren
erst vor kurzem angeheirateten Mann wegen einer Liebschaft verließ. Die Familie
hat ihr diese Schmach nie vergeben und auch keine weiteren Sachverhalte, die sie
als skandalöses Verhalten ansehen und nicht als das einer guten Tochter. Mit
ihrem neuen Partner hat Johanna sich in Amerika ein Leben aufgebaut und einen
gemeinsamen Sohn aufgezogen. Vor Jahren ist sie nicht zum Begräbnis ihres Vaters
gefahren, weil Sorgen um ihren Mann sie bedrückten, wodurch sie sich ebenfalls
den Unmut ihrer Mutter zugezogen hat.
Nach fast dreißig Jahren kehrt Johanna nach Norwegen zurück,
weil ein Kunstmuseum eine Retrospektive ihrer Arbeiten zeigen möchte. Die
Gedanken an ihre Mutter kann sie nicht ablegen. In einem durchgehenden Monolog
erzählt sie dem Lesenden davon, wie und wo sie sich ihre gealterte Mutter
vorstellt und was sie gerade tut. Sie beginnt damit, Kontakt zu ihr aufzubauen,
erlebt aber Ablehnung.
Im Laufe der Zeit wird ihr bewusst, dass ihre Eltern sie in
ihrer Erziehung nach ihren Vorstellungen formen wollten und ihre Zeit und ihr
Geld darin investiert haben und sie deswegen enttäuscht sind, weil sich ihre
Mühen nicht gelohnt haben. Sie selbst versucht ihrem Sohn einen
Handlungsspielraum nach dessen Maß zu geben, in dem sie allerdings auch kleine
Diskrepanzen wahrzunehmen glaubt.
Bei ihren Versuchen, die Mutter zu kontaktieren, wird sie
immer kühner. Sie beobachtet sie über Stunden, wobei sie unentdeckt bleiben
möchte, dabei aber vielleicht unbewusst eher anstrebt, wahrgenommen zu werden.
Über ihren Handlungen kreist die Frage, warum ihre Mutter sie nicht sehen will.
Sie fragt sich, ob es denn möglich ist, keine Mutter mehr sein zu wollen. In
Erinnerung an ihre Kindheit stellt sie fest, dass ihre damalige
Mutter-Tochter-Beziehung anderer Art war wie in späteren Jahren.
Johanna ergründet die Rolle ihrer sechs Jahre jüngeren
Schwester und die Auswirkungen ihrer Geburt auf das Verhältnis zu ihrer Mutter.
Bei ihren Grübeleien fällt ihr auf, dass sie mehr Ähnlichkeiten wie gedacht mit
ihrer Mutter hat und diese auch ein Kind ihrer Eltern und deren Erziehung ist.
Irgendwann empfand ich beim Lesen aber auch eine gewisse Länge, die durch die
kreisenden Gedankengänge der Protagonistin hervorgerufen wurden.
Manche Kapitel sind sehr kurz und spiegeln dabei die Sprünge
in ihren Überlegungen wider, die emotional bedingt sind. Sie erlebt ein
Wechselbad ihrer Gefühle zwischen Hoffnung und Vorfreude, Zorn und Enttäuschung,
ohne je die Sicherheit der elterlichen Liebe aus Kindertagen trotz
Zurechtweisungen ganz verdrängt zu haben.
Mit dem Ergründen ihrer Beziehung zum weiblichen Elterteil
findet die Künstlerin Johanna im Roman „Die Wahrheiten meiner Mutter“ von
Vigdis Hjorth auch einen Weg zu sich selbst und zu dem, was ihr wichtig im
Leben ist. Bis zum Ende hin bleibt offen, ob es ihr gelingen wird, das Herz
ihrer Mutter wieder für sich zu öffnen. Gerne empfehle ich das Buch an
feinfühlige Lesende weiter, die an der Seite der Protagonistin die Form einer feindselig
gewordenen Mutter-Tochter-Beziehung ergründen möchten.