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Mittwoch, 29. November 2023

Rezension: Besser allein als in schlechter Gesellschaft von Adriana Altaras

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Besser allein als in schlechter Gesellschaft:
Meine eigensinnige Tante
Autorin: Adriana Altaras
Erscheinungsdatum: 09.03.2023
Verlag: Kiepenheuer & Witsch (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN: 9783462004243

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„Besser allein als in schlechter Gesellschaft“ ist nicht nur der Titel des Buchs von Adriana Altaras, sondern auch das Motto nach der ihre Teta Jela in ihren letzten Jahren lebt. Ihre Tante heißt mit vollem Namen Jelka Motta. Sie steht kurz vor ihrem hundertsten Geburtstag, als sie stürzt und aufgrund ihrer Verletzung Pflege benötigt. Sie wird in einem Seniorenheim im italienischen Mantua aufgenommen, in der Stadt, in der sie auch wohnt. Der Lockdown in der Corona-Krise verhindert es, dass ihre in Berlin lebende Nichte Adriana sie besucht. Es folgen lange Telefonate und irgendwann erklärt eine Pflegerin der Tante die Technik des Skypens.

Die Autorin erzählt die Geschichte ihrer Teta Jela, mit dem auch ein großer Teil ihres eigenen Lebens verbunden ist, aus zwei sich abwechselnden Sichtweisen. Einerseits offenbarte sie mir als Leserin ihre eigenen Gefühle bei den Kontakten zu ihrer Tante, andererseits wechselt Adriana Altaras die Perspektive, versetzt sich in Jelka Motta und lässt sie als Ich-Erzähler berichten. Durch die Erzählform erfuhr ich einiges über den Alltag der betagten Tante aus nächster Nähe. Deren Erinnerungen blicken zurück auf ein bewegtes Leben. Vor allem ist es berührend, dass sie als Jüdin ein Konzentrationslager im Zweiten Weltkrieg überlebt hat. Als ihr Schwager, der Vater der Autorin, in den 1960er Jahren aus Zagreb fliehen muss und ihre Schwester dort noch zurückgehalten wird, nimmt sie die vierjährige Adriana bei sich in Italien auf. Die beiden entwickeln ein inniges Verhältnis zueinander.

Aus der Ferne organisiert die Autorin, was immer sich ihre Tante wünscht. Gleichzeitig schenkt sie ihr uneingeschränkt Vertrauen und erzählt ihr die eigenen Probleme. Jelka Motta war eine Frau mit eigenen Ansichten, die sich bis ins hohe Alter hinein ein selbstbestimmtes Leben zu erhalten gesucht hat. Die Autorin teilt mit den Lesenden auch ihre Emotionen aufgrund der Trennung von ihrem Mann, aber sie lässt auch ihre Teta Jele darüber zu Wort kommen, wen diese geliebt und besonders gernhatte. Die Tante war der Ansicht, dass ihre selbstgemachte Pasta über viele Sorgen hinweghelfen konnte. Obwohl im Buch einige bewegende Ereignisse geschildert werden, versteht Adriana Altaras ihnen die Schwere zu nehmen, indem sie ihnen bewusst einige amüsante Situationen entgegensetzt.

Das Buch „Besser allein als schlechter Gesellschaft“ ist ein warmherziges, familiäres Portrait der in Italien lebenden, in Jugoslawien aufgewachsenen Jelka Motta, der Tante der Autorin Adriana Altaras. Die Geschichte zeigt den respektvollen, hilfsbereiten Umgang zwischen der fast Hundertjährigen und ihrer etwa vierzig Jahre jüngeren Nichte. Das Verständnis füreinander lässt sie gemeinsam lachen und wehmütig sein, aber niemals aufgeben. Gerne empfehle ich das Buch uneingeschränkt weiter.

Donnerstag, 23. November 2023

Rezension: Nightbitch von Rachel Yoder

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Nightbitch
Autorin: Rachel Yoder
Übersetzerin aus dem amerikanischen Englisch:
Eva Bonné
Erscheinungsdatum: 16.09.2023
Verlag: Klett-Cotta (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN: 9783608986877
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Die US-Amerikanerin Rachel Yoder schreibt in ihrem Debüt „Nightbitch“ über eine Künstlerin, die ihren Job in einer Galerie aufgegeben hat, um sich nur noch um den zweijährigen Sohn und den Haushalt zu kümmern. Ihr Spitzname ist titelgebend, aber es scheint, dass sie der doppelten Bedeutung der „Bitch“ immer gerechter wird. Einerseits nimmt sie die Bezeichnung als „Miststück“ selbstironisch, andererseits glaubt sie zunehmend, dass sie sich in eine Hündin verwandelt, denn sie spürt erste körperliche Veränderungen in dieser Richtung.

Die Autorin erzählt die Geschichte aus einer allwissenden Sicht mit Fokus auf die Protagonistin, der sie keinen Vor- oder Zunamen gibt, sondern sie gleich zu Beginn mit „Nightbitch“ oder „Mutter“ benennt. Das besondere Stilelement wird eventuell vielen Lesenden hilfreich dabei sein, sich in dieser Rolle wiederzuerkennen.

Nightbitch betont im Laufe der Geschichte mehrfach, dass sie einen guten Mann geheiratet hat, doch wochentags ist er auf mehrtägigen Dienstreisen unterwegs. Eigentlich wollte sie ihr Kind fremdbetreuen lassen, während sie weiter im Job bleibt, doch dann hatte sie Mitleid mit ihrem Sohn, der wenig Aufmerksamkeit durch die Erzieherinnen erhält. Weil das Gehalt ihres Ehemanns höher als ihr eigenes ist, hat sie ihre Tätigkeit aufgegeben. Seit Monaten lebt sie den Alltag einer Vollzeitmutter. Das Wohl ihres Kindes stellt sie über ihr eigenes und verzichtet zunehmend auf Körperpflege, regelmäßige Mahlzeiten und soziale Kontakte. In ihr erwachen Instinkte und Triebe, die sie neugierig ausleben möchte und dabei spielerisch ihren Sohn mit einbezieht. Doch allmählich entgleitet ihr die Kontrolle über das Spiel und sie agiert unbeherrscht, wild und bestialisch.

Rachel Yoder schreibt mit hohem Einfühlungsvermögen. Ihre überspitzte Darstellung lässt ein Augenzwinkern nicht vermissen. Als sensible Künstlerin hat ihre Protagonistin ein unruhiges Gefühlsleben und schwankt schnell zwischen Euphorie und Ermüdung. Die Arbeiten, die sie zu erfüllen hat, widmet sie sich mit Leidenschaft. Nachdem ihr die Chance auf eine berufliche Karriere scheinbar versagt ist, probiert sie ihre niedersten Begierden aus. Daraus erklärt sich auch das Titelbild, denn es gelüstet sie unter anderem nach rohem Fleisch.

Der Kontakt von Nightbitch zu anderen Müttern schildert die Autorin zwar ebenfalls überzogen, aber dadurch macht sie deutlich, welche Erwartungen die Gesellschaft an eine Mutterrolle knüpft. Erst als es der Hauptfigur gelingt, über den Tellerrand ihrer selbst gestalteten Zurückgezogenheit zu schauen und sie Mitgefühl für eine andere Mutter entwickelt, erwacht in Nightbitch die verloren geglaubte Kreativität. Es gelingt ihr, nach neuen Lösungen für die eingefahrene Situation in ihrem Leben zu suchen.

Der Debütroman „Nightbitch“ von Rachel Yoder ist eine ungewöhnliche Lektüre, die in die tiefsten Sphären unserer ureigenen Instinkte führt. Der Autorin gelingt es durch eine übertriebene Darstellung, die teils auch amüsant ist, auf die besonderen Herausforderungen des Mutterseins hinzuweisen, hinter der Frauen ihre eigenen Bedürfnisse viel zu häufig herabsetzen. Ein unvergleichbarer, eindringlich erzählter Roman mit speziellem Identifikationspotential, den ich gerne weiterempfehle

Sonntag, 19. November 2023

Rezension: Die Inkommensurablen von Raphaela Edelbauer


Die Inkommensurablen
Autorin: Raphaela Edelbauer
Hardcover: 352 Seiten
Erschienen am 14. Januar 2023
Verlag: Klett-Cotta

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Der Bauernknecht Hans Ranftler trifft am Morgen des 30. Juli 1914 in Wien ein. Er ist gekommen, um die Psychoanalytikerin Helene Cheresch um einen Termin zu bitten. Sie ist spezialisiert auf Fälle wie den seinen, denn er ist seit einigen Jahren davon überzeugt, Gedanken anderer Menschen zu hören, bevor diese sie aussprechen. Die Stadt ist in Aufruhr, denn am nächsten Tag soll die Mobilmachung losgehen. Vor dem Haus von Helene Cheresch trifft Hans auf Adam und Klara, deren Fähigkeiten von der Psychologin untersucht werden. Adam stammt aus reichen Hause und soll General werden, Klara aus ärmlichen Verhältnissen. Die Sufragettenbewegung hat ihr ein Mathematikstudium ermöglicht, das sie am folgenden Tag mit einem Doktortitel krönen soll. Die beiden nehmen Hans unter ihre Fittiche und erkunden einen Tag und eine Nacht lang die Stadt.

Zu Beginn des Buches war ich als Leserin an Hans' Seite, als er in Wien eintrifft. Die Großstadt prasselt mit all ihren Eindrücken auf Hans ein, der jahrelang auf einem Hof gearbeitet hat. Trotz Reizüberflutung schafft er es zur Praxis von Helene Cheresch, schnappt jedoch schon auf dem Weg die angespannte Stimmung auf, die in Anbetracht des anstehenden Kriegsbeginns auf der Stadt liegt. Es ist überall das Gesprächsthema Nummer Eins und beinahe alle gehen automatisch davon aus, dass Hans in die Stadt gekommen ist, um sich für den Kriegsdienst zu melden.

Nach dem ersten Gespräch mit Helene, die Hans einen Termin für den folgenen Tag gibt, lernt dieser Klara und Adam kennen. Klara beschäftigt sich für ihren Doktortitel mit den titelgebenden Inkommensurablen, denn sie ist fasziniert von der Philosophie der Mathematik. Über das Verhältnis der beiden zu Helene und ihre vermeintlichen Fähigkeiten erfährt man im Laufe des Romans mehr. Ich fand die Einblicke in die Parapsychologie, die sich um fremde Gedanken und Erinnerungen sowie Traumcluster drehen, interessant. Auch die Geschichte der Sufragetten und die queere Geschichte Wiens spielen in diesem Roman eine Rolle.

Es wird eine große Bandbreite an Themen bedient, über die ich gerne mehr erfahren wollte. Diesen auf 350 Seiten gerecht zu werden ist jedoch eine gewaltige Aufgabe, welche der Autorin mal besser und mal schlechter gelingt. Sie wählt eine anspruchsvolle Sprache, die ich bereits aus ihren vorherigen Romanen kannte. Dennoch muss ich sagen, dass ich mich trotz Mathe-Abitur und abgeschlossenem Psychologiestudium schwer damit tat, den intellektuell herausfordernden Ausführungen nahtlos zu folgen. Nach einem starken Start habe ich mich im Mittelteil schwer getan. Den Abschluss mit der Verkündigung der Mobilmachung und den Entscheidungen, welche die Charaktere basierend auf dieser Nachricht treffen, fand ich gelungen. Ein Roman für alle, die Lust auf einen komplexen und vielschichtigen Roman mit historisch bedeutsamem Setting haben.

Mittwoch, 15. November 2023

Rezension: Das Gemälde von Geraldine Brooks

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Das Gemälde
Autorin: Geraldine Brooks
Übersetzerin aus dem Amerikanischen: Judith Schwaab
Erscheinungsdatum: 15.11.2023
Verlag: btb (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN: 9783442759972
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Es geht um ein erfolgreiches Rennpferd, es geht um ein Bildnis dieses Pferdes, aber vor allem geht es im Roman „Das Gemälde“ der US-Amerikaner Geraldine Brooks um Diskriminierung unter verschiedenen Aspekten. Die Handlung spielt auf drei Zeitebenen und basiert auf der wahren Geschichte des Pferds „Lexington“, das im Jahr 1850 in Kentucky geboren wurde. Von diesem Zeitpunkt an, über die nächsten Jahre hinweg, erzählt die Autorin von den Erfolgen des Tiers. Die Kapitel werden unterbrochen von Ereignissen im Jahr 2019, als ein Gemälde des Rennpferds auf dem Sperrmüll gefunden wird. Dieser Teil des Romans ist ebenso fiktional wie die Begebenheiten im Jahr 1954, als eine Galeristin ebenfalls ein in Öl gemaltes Bild eines Pferds entdeckt.

Wie es damals in Kentucky üblich war, wurde dem Rennpferd Lexington, der zunächst Darley hieß, ein versklavter Junge zur Seite gestellt, der sich um dessen Wohl zu kümmern hatte. Geraldine Brooks gibt ihm den Vornamen Jarret. Weil die Kapitel mit den Namen der Protagonist(inn)en überschrieben sind, lässt sich beim Durchblättern bereits erkennen, dass sich der Nachnamen von Jarret, in Abhängigkeit von seinem Besitzer, mehrfach ändern wird. In jugendlichem Alter avanciert er zum Trainer des erfolgreichen Pferds, doch er bleibt stets von seinem Eigentümer abhängig und davon, ob dieser es ihm erlaubt, an der Seite von Lexington zu verweilen.

Als Ich-Erzähler berichtet in einigen Kapiteln ein Künstler von der Schwierigkeit, ein Pferd realistisch abzubilden. Der Maler kämpft später im Sezessionskrieg der Nord- gegen die Südstaaten um die Abschaffung der Sklaverei, wodurch Geraldine Brooks auch diesen Teil der US-amerikanischen Geschichte dem Lesenden näherbringt. Mit gut recherchierten Fakten unterbaut, arbeitet sie die Ungerechtigkeit der Sklaverei deutlich heraus und thematisiert dabei auch den Verkauf von Menschenleben. Gleichzeitig beschreibt sie gekonnt, die faszinierende Welt des Pferderennens und lässt manchen Wettkampf auf der Rennbahn lebendig werden.

Die Begebenheiten in den Jahren von 1954 bis 1956 schließen die Verbindung zum Jahr 2019, in welchem Theo, ein nigerianisch-amerikanische Doktorand der Kunstgeschichte, das von seiner Nachbarin entsorgte Gemälde eines braunen Hengstfohlens findet. Währenddessen wird die australische Wissenschaftlerin Jess, die am Smithsonian Museum in Washington D.C. beschäftigt ist, gebeten, einer Forscherin das Skelett eines Pferds zugänglich zu machen. Jess begegnet Theo an ihrer Arbeitsstätte, nachdem dieser das Bild zu einem Konservator gebracht hat. Die beiden entwickeln im Laufe der Zeit Gefühle füreinander.

Die Autorin gewährte mir Einblicke in die Tätigkeiten des Smithsonian genauso wie in die Welt der Kunst. Anhand der Geschichte von Jess, Theo und deren Umfeld zeigt sie, dass der Rassismus bis heute nicht überwunden ist. Gleichzeitig verdeutlicht sie beispielhaft die Diskriminierung von Frauen, der nationalen Herkunft und der sozialen Klasse.

Es ist eine erstaunlich große Vielzahl sehr unterschiedlicher Themen wie Rennpferde, Kunst, Rassismus und Klimawandel, die Geraldine Brooks in ihrem Roman „Das Gemälde“ auf einzigartige Weise miteinander verknüpft. Dank bester Konstruktion fesselt er von Beginn an und wirkt aufgrund der guten Recherche überaus realistisch. Ich war fasziniert von den Fakten, die die Autorin nahtlos mit der Fiktion verwebt und empfehle sehr gerne den Roman uneingeschränkt weiter.  


Dienstag, 14. November 2023

Rezension: Frankenstein von Mary Shelley in der Biblioteca Obscura

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Frankenstein
Autorin: Mary Shelley
Neubearbeitung: Sandra Mieling
Illustrationen: Marcin Minor
Erscheinungsdatum: 23.10.2023
Verlag: arsEdition (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Farbschnitt
ISBN: 9783845854397
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Mary Shelleys Buch „Frankenstein“ ist ein Schauerroman mit Elementen aus dem Sciene Fiction. Die Geschichte ist verschachtelt geschrieben und zum ersten Mal l1818 veröffentlicht. Darin schreibt  der Abenteurer Robert Walton während einer Fahrt in den Norden, bei der er sich die Entdeckung neuer Länder erhofft und die Lüftung des Geheimnisses des Magnetismus, an seine Schwester in England von einer Begegnung besonderer Art. Während das Schiff, auf dem er als Kapitän unterwegs ist, von Eisschollen eingeschlossen ist, nehmen sie den aus Genf stammenden Naturwissenschaftler Frankenstein an Bord, dem es ein dringendes Bedürfnis zu sein scheint, sein Leben zu erzählen.

Robert Walton hört ihm zu und macht weitreichende Aufzeichnungen, die er an seine Schwester schickt. Dennoch wird die Haupthandlung des Romans in der Ich-Form von Frankenstein erzählt. Aufgrund seines regen Interesses hat er sich sämtliches bekanntes Wissen über Chemie und Physik angeeignet und damit aus unbelebten Teilen ein Monster geschaffen, vor dem er selbst Angst bekommt, als es erwacht. Mehrere Jahre später stellt Frankenstein fest, dass ein geliebtes Familienmitglied von dem Unwesen ermordet wurde. Das Monster sucht ihn auf und fordert, dass er für ihn eine Gefährtin konstruiert. Sollte er ihm nicht Folge leisten, werden seine Freunde nach und nach getötet werden.

Mary Shelley nennt keine Details über die Erschaffung des Monsters. Sie schrieb das Buch in einer Zeit, in der Galvinismus und Elektrizität neu entdeckt und eifrig diskutiert wurden. Die Überlegungen sind hochaktuell, denn so wie damals über die Belebung des menschlichen Körpers spekuliert wurde, so wird heute darüber nachgedenkt, inwieweit Künstliche Intelligenz den menschlichen Intellekt ersetzen kann. Die Autorin schafft in ihrem Werk Kontraste zwischen bezaubernden Naturlandschaften und der meist vorherrschenden düsteren Stimmung von Frankenstein. Sowohl Schöpfer wie Geschaffener sehnen sich nach Liebe, um der Einsamkeit zu entkommen. Die Geschichte zeigt, welche Ausmaße möglich sind, wenn körperliche Überlegenheit gegen Intellekt eingesetzt wird, wobei keiner der Kontrahenten dazu bereit ist, seine Macht aufzugeben.

Die Schmuckausgabe aus der Serie Biblioteca Obscura der arsEdition stattet den Roman „Frankenstein“ von Mary Shelley opulent aus, sowohl optisch wie auch haptisch. Der polnische Gegenwartskünstler Marcin Minor hat das Buch passend zum Inhalt mit finsteren Illustrationen in grauen und blutroten Farbtönen ausgestattet. Ein wahrlich gruseliges Leseereignis!


Montag, 13. November 2023

Rezension: Der Geruch von Ruß und Rosen von Julya Rabinowich

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Der Geruch von Ruß und Rosen
Autorin: Julya Rabinowich
Erscheinungsdatum: 21.08.2023
Verlag: Hanser (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Klappenbroschur
ISBN: 9783446277137
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Madina ist in Österreich „angekommen“, dem Krieg Daheim, in einem unbenannten Land, ist sie mit ihrer Familie vor fast drei entflohen. Julya Rabinowich hat über die fiktiven Ereignisse, die Madina in den vergangenen Jahre erlebt hat, zwei Bücher geschrieben hat. Im Roman „Der Geruch von Ruß und Rosen“ lässt die Autorin ihre Protagonistin zunächst von ihrem jetzigen Alltag erzählen, aber die furchtbaren Erinnerungen an die Kriegstage, kann sie nicht vergessen. Der Geruch von Ruß hängt in ihrer Nase ebenso fest wie der Blumenduft der Rosen im Garten der Großmutter. Vor allem vermisst Madina ihren Vater, der sich als Arzt um jede und jeden gekümmert hat, der sich an ihn wendete. Irgendwann hat er seine Familie zurückgelassen und ist wieder in die Heimat zurückgereist.

Doch dann erhält die Protagonistin endlich die Nachricht, dass der Krieg beendet ist. Bestimmt wird sich nun ihr Leben zum Besten hin ändern, wenn erst der Vater heimgekehrt. Zeit vergeht, aber es kommt keine Nachricht von ihm. Sie nimmt die Gelegenheit wahr, ihre Tante zurück ins Heimatland zu begleiten. Dort macht sie sich auf die Suche nach ihrem Vater, damit sie zu dritt die Rückfahrt antreten können. Ihre Reise endet in einer Tragödie.

Die Geschichte wird tagebuchartig von Madina in der Ich-Form erzählt. Dadurch kam ich den Gefühlen der Protagonistin sehr nah. Aus ihren Beschreibungen konnte ich ihre Stimmung erfassen, ihre Trauer und Wut, ebenso wie ihre Dankbarkeit und Zuneigung. Manchmal spürte ich ihre innere Erregung und hatte Verständnis dafür, dass es ihr vermutlich schwerfiel, sich in Worten auszudrücken, denn dann blieben die Einträge relativ kurz. Julya Rabinowich wählt eine einfache und coole Sprache, so dass auch Jugendliche sich gut in die Erzählung einfinden können. Immer wieder las ich starke Sätze, die augenöffnend sind.

Madina hat sich inzwischen gesellschaftlich angepasst. Eine neue Bekannte führt ihr vor Augen, dass sie zunehmend auf das herabschaut, was ihre Kultur früher ausmachte und sich nun dafür schämt. Die Protagonistin lernt, selbst zu entscheiden, was sie für ihre Zukunft als wichtig empfindet. Als Madina in ihre Heimat zurückkehrt, werden ihre schlimmsten Vorstellungen übertroffen. Ich war tief berührt von dem, was sie dort erlebt. Die Protagonistin war mir auch deswegen sympathisch, weil sie über andere Meinungen nachdenkt und ihnen Respekt zollt, auch wenn sie nicht immer Verständnis dafür hat.

Die Handlung ist rein fiktiv, steht aber für viele Schicksale, von denen die Autorin erfahren hat. Daher weist sie dem Krieg auch kein Land zu, denn er könnte überall spielen. Wer vor dem Krieg aus seiner Heimat flüchtet, hat in der Regel Schreckliches erlebt. Das Wo spielt keine Rolle.

Anhand der Geschichte der erdachten Figur Madina zeigt Julya Rabinowich in ihrem Roman „Der Geruch von Ruß und Rosen“ das, was Krieg ausmacht. Sie führt den Blick auf die Gefühle der Menschen, die als Flüchtlinge ein neues Daheim gefunden haben, allerdings oft, ohne mit dem Schrecken abschließen zu können. Gerne empfehle ich das Buch uneingeschränkt weiter.

Sonntag, 12. November 2023

Rezension: Threads of Power - Die feinen Fäden der Magie von V.E. Schwab


Threads of Power. Die feinen Fäden der Magie
Autorin: V.E. Schwab
Übersetzerinnen: Sara Riffel, Petra Huber und Alexandra Jordan
Hardcover: 736 Seiten
Erschienen am 25. Oktober 2023
Verlag: FISCHER Tor

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Sieben Jahre sind seit der Schwarzen Nacht vergangen, in denen es den drei Antari Lila, Kell und Holland gelungen ist, den mächtigen Osaron, Zerstörer des Scharzen Londons, zu besiegen. Dabei hat Holland sein Leben gelassen, und für Kell ist jeder Zugriff auf seine Magie mit schrecklichen Schmerzen verbunden. Er umsegelt gemeinsam mit Lila und ihrer Crew die Welt, während sein Bruder Rhy auf dem Thron des Roten London sitzt. Doch eine geheime Organisation, die "Hand", hat es sich zum Ziel gesetzt, Rhy zu töten. Sie macht ihn für das Schwinden der Magie verantwortlich. Als die "Hand" ein mächtiges Artefakt stieht, treibt eine alte Schuld Lila dazu, sich auf die Suche nach diesem zu begeben. 

Ich habe vor fünf Jahren die Weltenwanderer-Trilogie mit großer Begeisterung gelesen und war daher Feuer und Flamme, als verkündet wurde, dass die Geschichte nun eine Fortsetzung erhält. In einem Prolog, der zeitlich unmittelbar an die bisherigen Ereignisse anschließt, lernte ich Kosika kennen, eine junge Diebin, die im weißen London lebt. Auf der Flucht vor ihrer Mutter, die sie verkaufen will, läuft sie in den unheimlichen Silberwald und findet dort einen toten Mann an einen Baum gelehnt sitzen.

Über Kosika sollte ich als Leserin erst später mehr erfahren. Zunächst springt die Geschichte sieben Jahre in die Zukunft und auch hier lerne ich eine neue Figur kennen. Tes hat die einzigartige Gabe, die Fäden der Magie nicht nur sehen, sondern sie auch neu verweben zu können. In ihrem Geschäft, das offiziell dem stets beschäftigten Meister Haskin gehört, repariert sie magische Gegenstände aller Art. 

Die Autorin bringt mit Tes ebenso wie mit Kosika und der Königin spannende neue Charaktere ins Spiel, die mit ihren Fähigkeiten das Geschehen maßgeblich beeinflussen werden. Für Fans der Reihe gibt es aber auch ein Wiedersehen mit altbekannten und liebgewonnenen Charakteren wie Rhy, Alucard, Lila und Kell. Durch die Aktivitäten der "Hand" ist das Leben der Königsfamilie bedroht und die Suche nach dem gestohlenen Artefakt und den Drahtziehern gestaltet sich als spannend und actionreich. 

In der zweiten Buchhälfte erhielt ich einige Einlblicke ins Weiße London. Diese beeinflussen die Haupthandlung nicht, ich fand es aber dennoch interessant, zu erfahren, wie sich die Situation dort nach der Schwarzen Nacht entwickelt hat. Hier wird bereits einiges vorbereitet, was im nächsten Band vermutlich eine Rolle spielen wird.

Aufgrund des zeitlichen Abstands zu den Ereignissen der Weltenwanderer-Trilogie lässt sich der Roman auch ohne Vorkenntnisse lesen. Mit ihnen ist es aber noch schöner, denn ich fand die Entwicklungen, welche V.E. Schwab die Charaktere hat durchlaufen lassen, gelungen. Für mich war "Threads of Power" ein Nachhausekommen in eine liebgewonnene Welt, in welcher neue Ereignisse sowie Charaktere mit neuen Fähigkeiten für Schwung sorgen. Ich gebe eine klare Leseempfehlung an alle Fanatsy-Fans!

Rezension: Love Will Tear Us Apart von C.K. McDonnell


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Love Will Tear Us Apart
Autor: C.K. McDonnell
Übersetzer: André Mumot
Erscheinungsdatum: 29.09.2023
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Leseband und Farbschnitt
ISBN: 9783847901495
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Die Stimmung in der Redaktion der Stranger Times in Manchester ist an einem Tiefpunkt angekommen, denn die bisherige stellvertretende Chefredakteurin Hannah hat gekündigt. Außerdem hat ihr Vorgesetzter Vincent Banecroft, eine undefinierbare Laune. „Love Will Tear Us Apart“, der Titel des dritten Bands der Serie rund um die Zeitung Stranger Times, der fiktiven Zeitung für Unerklärtes und Unerklärliches, klärt den Grund für seinen Gemütszustand. Der irische Autor CK McDonnell treibt auch hierin wieder die Ereignisse unaufhaltsam auf einen Höhepunkt der besonderen Art zu.

Die Frau des Chefredakteurs ist vor längerer Zeit verstorben. Banecroft verleugnet bisher diese Tatsache, vor allem, seit sie ihm durch einen Geist Botschaften zukommen lässt mit der Bitte, ihr zu helfen. Als Leserin erfuhr ich, anders als die Redakteure, dass Hannah im Auftrag der Besitzerin der Stranger Times in einem New-Age-Zentrum eincheckt, in dem sich kurze Zeit vorher ihr baldiger Ex-Mann hat behandeln lassen. Überdies wendet sich die Schwester eines früheren Mitarbeiters an die Stranger Times, weil ihr Bruder plötzlich verschwunden ist, was gar nicht zu ihm passt. Schnell stellt sich heraus, dass nicht er, sondern jemand anders die ihm zugeordneten Artikel geschrieben hat.

CK McDonnell hat sich erneut eine Storyline ausgedacht, die zunächst mit kaum zugehörig erscheinenden Ereignissen. Der dritte Teil der Serie kann zwar unabhängig von dem vorliegenden gelesen werden, aber mir hat es gefallen, wieder von den bereits vertrauten Figuren zu lesen und ihre Weiterentwicklung zu verfolgen. Der Autor konfrontiert die Mitarbeitenden der Zeitung solange mit neuen Begebenheiten, bis jeder und jede von ihnen in irgendeine Ermittlung einbezogen ist, sowohl die Sekretärin Grace wie auch die Zeitungsschreiber(innen) Stella, Ox und Reggie. Zu ihnen gesellt sich Betty, die neu eingestellte Vertreterin des Chefredakteurs, und auch Detective Inspector Surgess darf nicht fehlen.

Immer wieder springt die Handlung auch zu Hannah, die im Luxusressort leider keine Auszeit genießen kann, sondern im wahrsten Sinne des Wortes immer tiefer ins Dunkle gezogen wird. Auch der Wahrheitssprecher und sein Mitbewohner, ein sprechender Hund spielen erneut in der Geschichte mit. Zwischen den Kapiteln konnte ich wieder einige Kostproben der Artikel lesen, die gewöhnlich in der Stranger Times erscheinen.

Im dritten Band zündet CK McDonnell erneut ein Feuerwerk der schrägen Ideen ab. Sein trockner Humor sorgt durchgehend für ein amüsantes Lesevergnügen, an dem auch André Mumot, dank seiner sehr guten Übersetzung Anteil hat. Gerne empfehle ich das Buch an Lesende mit Sinn für übertriebene übernatürliche Begebnissen weiter.


Dienstag, 7. November 2023

Rezension: Sylter Welle von Max Richard Leßmann

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Sylter Welle
Autor: Max Richard Leßmann
Erscheinungsdatum: 17.08.2023
Verlag: KiWi (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN: 9783462004045
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In seinem Roman „Sylter Welle“ erinnert sich Max Richard Leßmann, der nicht nur Autor des Buchs, sondern auch Sänger und Podcaster ist, an die gemeinsamen Urlaube mit seinen Großeltern auf der größten nordfriesischen Insel zurück. Es ist eine Geschichte, in die Max Leßmann eigene Erlebnisse hat einfließen lassen. Das Cover verspricht womöglich auf den ersten Blick schöne idyllische Tage am Meer, doch auf den zweiten erkennt man den in Flammen stehenden Strandkorb. Beim Betrachten stellte ich mir die Frage, ob der Brand eine Metapher zu den Ferientagen von Max darstellt und war daher gespannt auf seine Erzählung.

Viele Jahre lang hat der Protagonist Max die Eltern seines Vaters auf Sylt auf dem Campingplatz besucht. Inzwischen haben diese aber ihren Wohnwagen verkauft, beabsichtigen jedoch, noch ein letztes Mal auf die Insel zu fahren. Max besucht sie dort für drei Tage in ihrer Ferienwohnung, die zu dem Wohnkomplex „Sylter Welle“ gehört und neben dem gleichnamigen Freizeitbad in Westerland liegt. Bereits bei seiner Ankunft macht Max sich einige Gedanken zu dem gesundheitlichen Zustand seiner Großeltern, denn ihm wird bewusst, dass er irgendwann für immer von ihnen Abschied nehmen muss.

Mit seinem ihm eigenen Humor nimmt Max Leßmann manches Detail am Rande seines Urlaubs in den Blick, wie beispielsweise Ess- und Schwimmgewohnheiten. Seine Gedanken sind amüsierend, mit einer kurzen Bemerkung erhalten sie Würze und manchmal auch Tiefsinn. Gerne schwelgt er in seinen Erinnerungen an vergangene Ferien. Dabei stellt er die Eigenheiten seiner Großeltern heraus und verdeutlicht die Punkte, an denen es typischerweise zu Generationenkonflikten kommt.

Bald schon wurde mir bewusst, dass es dem Autor in seinem Roman um mehr geht als einer Schilderung von Urlaubserlebnissen. Aus den Erzählungen seiner Verwandtschaft weiß er um die niederschlesische Herkunft seines Großvaters, der nach der Flucht aus der Heimat mit seiner Familie im westfälischen Dorf der Großmutter ankam. Max erinnert sich an die Schilderungen von dessen Kindheit mit einem strengen Vater. Sein Opa hat ihm aber auch von den Freiheiten erzählt, die er seinen eigenen Kindern gewährt hat. Die Großmutter von Max erscheint reserviert und stellt für die Familie ihre eigenen, manches Mal befremdenden Regeln auf. Sie ist immer um das leibliche Wohl ihrer Liebsten besorgt.

Es wird nicht deutlich, inwieweit der Roman reale Begebenheiten widergibt. Max Leßmann sagt dazu, dass er die Geschichte verfremdet hat, aber einige Verwandte sich gegenseitig wieder erkennen. Nichtsdestotrotz beschreibt der Autor die Familienmitglieder eigenwillig liebevoll mit Ecken und Macken und schont sich nicht, einige sonderliche Eigenarten seines Alter-Ego darzulegen.

Max Richard Leßmann widmet seinen Roman „Sylter Welle“ seiner Großmutter. Doch nicht nur mit ihrem Leben und ihren Ansichten setzt er sich darin auseinander, sondern auch mit denen seines Großvaters. Er schaut aber genauso auf deren Verständnis für seine Meinungen, seinen Beruf und seine Lebensgestaltung. Die Geschichte hat den Aufforderungscharakter, sich mit seinen Familienangehörigen auseinanderzusetzen und andere Sichtweisen zu respektieren. Sehr gerne empfehle ich das Buch weiter.


Sonntag, 5. November 2023

Rezension: No Regrets von Dietlind Falk


No Regrets
Autorin: Dietlind Falk
Hardcover: 224 Seiten
Erschienen am 25. September 2023
Verlag: hanserblau

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Der No Regrets Tattoo Shop hat schon einmal bessere Zeiten gesehen, das wird gleich zu Beginn des Romans deutlich:

"Mehr als die Hälfte der Kunden, die das No Regrets derzeit betraten, verließen den Laden ohne neues Tattoo und ohne Termin und ohne Anzahlung. Muddy hatte ihnen nicht genügend Zähne im Maul, Hänk war nicht freundlich genug, sie fühlten sich nicht verstanden. Früher, vor dem Internet, hatte diese charmante Grobheit ihr Studio berühmt-berüchtigt gemacht und vermutlich eher für mehr als für weniger Kundschaft gesorgt" (S.12)

Es muss sich daher etwas ändern, wenn Inhaber Muddy weiterhin in der Lage sein will, die Miete zu zahlen. Widerstrebend stellt er eine neue Tätowiererin ein. Luz, die von ihren Kollegen gleich in Lutz umgetauft wird, sorgt nicht nur für neue Kundschaft, sondern hinterfragt auch die Situation im Studio. Muddys treuem Mitarbeiter Hänk passt das so gar nicht, während der zurückhaltende Rudi von Luz' tougher Art begeistert ist. Alte Gewohnheiten treffen auf frische Ideen, wodurch der Alltag im No Regrets auf den Kopf gestellt wird.

Zu Beginn des Romans wurden mir die vier Hauptcharaktere vorgestellt: Muddy und Hänk arbeiten seit vielen Jahren im Studio zusammen und haben sich im Knast kennengelernt. Für die beiden gibt es Traditionen wie den müffelnden ausgestopften Alligator und die ewig gleichen Frotzeleien, an denen nicht zu rütteln ist. Rudi hat eine Ausbildung im Studio gemacht, während er seinen Eltern ein Studium vorgaukelt, tätowiert ausschließlich Letterings und versucht vor allem, nicht aufzufallen. Ganz im Gegenteil zu Luz, die mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg hält und auch die Konfrontation nicht scheut.

Die Autorin stellt auf Aufeinanderprallen der unterschiedlichen Generationen und der damit verbundenen Philosophien auf amüsante Weise dar. Durch ihre Interaktionen werfen die Figuren sich gegenseitig aus der Komfortzone und ich war gespannt, was daraus entstehen wird. Der Alltag im Tattoo-Studio mit speziellen Kunden, besonderen Tattoo-Wünschen und kleinen wie großen Fails fand ich unterhaltsam und kurzweilig. Dazu passt der rotzige Tonfall wunderbar, der mich mitten hinein ins Ruhrgebiet katapultierte.

Für mich ist das Buch in erster Linie ein Freundschaftsroman. Während die Tage ins Land ziehen, raufen sich die Charaktere allmählich zusammen, entwickeln sich persönlich weiter und bauen Vertrauen zueinander auf. Zwischendurch fehlte mir allerdings ein Ziel, auf das sich die Handlung hinbewegt. Die letzten Szenen bringen überraschend viel Spannung und Schwung in die Geschichte und finden einen Abschluss, der mir gut gefallen hat. Ein toller Roman über vier Außenseiter, welche die Liebe zum Tätowieren zusammenbringt, den ich gerne weiterempfehle.

Samstag, 4. November 2023

Rezension: Mario und der Zauberer von Thomas Mann

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Mario und der Zauberer
Autor: Thomas Mann
Erscheinungsdatum der Leinenausgabe: 25.10.2023
Verlag: S. Fischer (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Leineneinband
ISBN: 9783103975529
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Die Novelle „Mario und der Zauberer“ von Thomas Mann ist Ende Oktober 2023 zum ersten Mal in einer attraktiven Leinenausgabe aufgelegt worden, wurde aber 1930 erstmals publiziert. Der Schriftsteller lässt darin einen Protagonisten „ein tragisches Reiseerlebnis“, wie es auch im Untertitel heißt, schildern.

Der unbenannte Ich-Erzähler ist gemeinsam mit seiner Frau, der acht Jahre alten Tochter und dem etwas jüngeren Sohn an die italienische Mittelmeerküste gereist. Bereits im ersten Satz fasst er mit der Bezeichnung „atmosphärisch unangenehm“ zusammen, wie er im Rückblick gesehen, den Urlaub empfunden hat.

Bei den Touristen und dem Personal des Grand Hotels, in dem die Familie zunächst gastiert, nimmt er einen Hang dazu wahr, jede Handlung der Mitmenschen zu bewerten und sich schnell über vermeintlich von den Normen abweichenden Verhaltens zu empören. Familie Mann macht damit selbst eine unangenehme Erfahrung. Dennoch beschließen sie, nicht abzureisen. Für die Kinder steht bald eine besondere Attraktion in dem Besuch einer Zauberdarbietung bevor. Jedoch erweist sich die Veranstaltung unerwartet als Vorführung einiger willenlosen Publikumskandidaten, zu denen Mario gehört, ein Kellner, den auch die Manns kennengelernt haben. Die Novelle endet unerwartet dramatisch.

Gerade heutzutage ist die Geschichte wieder auf der Höhe der Zeit. Die Schilderungen lassen auf eine Reise der Familie Mann im Jahr 1926 schließen und auch der Schriftsteller bestätigt, dass die Begebenheiten auf wahren Ereignissen basieren. Zur damaligen Zeit wurde Italien von einem faschistischen Regime regiert. Das Niedergeschriebene ist voller Gefühl, die Abneigung der neuen Stimmungslage durch den Autor ist deutlich zu spüren und wird von ihm durch Beispiele untermauert.

Die Darbietung des Zauberers macht deutlich, wie leicht es ist, andere zu manipulieren und zum Mitmachen zu veranlassen. Sie zeigt aber auch einen Vorführer beziehungsweise Verführer, der sich an der Aufmerksamkeit seiner Zuschauer labt und dadurch zur Höchstform aufläuft. Die Ereignisse stimmten mich beim Lesen nachdenklich.

Thomas Mann beschreibt in seiner Novelle „Mario und der Zauberer“ ein persönliches Urlaubserlebnis in einer am Mittelmeer gelegenen Kleinstadt in Italien am Ende der 1920er Jahre, reichert es mit seiner Fantasie an und schafft dadurch ein Abbild der Gesellschaft im beginnenden Faschismus des südlichen Lands. Ich hoffe, dass das Werk noch viele Lesende finden wird, vor allem weil es bestechend aktuell ist.

Mittwoch, 1. November 2023

Rezension: Der späte Ruhm der Mrs. Quinn von Olivia Ford


Der späte Ruhm der Mrs. Quinn
Autorin: Olivia Ford
Übersetzerin: Sonja Rebernik-Heidegger
Hardcover: 400 Seiten
Erschienen am 25. Oktober 2023
Verlag: dtv

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Jennifer Quinn ist siebenundsiebzig Jahre alt und feiert in Kürze mit ihrem Mann Bernard diamantene Hochzeit. Während Bernard abends die Zeitung liest, schaut sie am liebsten "Das Backduell" im Fernsehen an. Schließlich nimmt sie ihren Mut zusammen und reicht ihre Bewerbung für die Show ein. Zu ihrer Überraschung wird sie zum Casting eingeladen. Sie hält die Neuigkeiten vor Bernard geheim, um ihn nicht zu beunruhigen. Doch das ruft bei ihr auch Erinnerungen an das eine große Geheimnis wach, das sie in den fast sechzig Jahren ihrer Ehe nie mit ihrem Mann geteilt hat.

Schon die Torte auf dem Cover macht Appetit auf etwas Süßes und entsprechend ist es wenig verwunderlich, dass sich in diesem Roman wirklich alles um die Leidenschaft fürs Backen dreht. Auch die einzelnen Kapitel tragen den Namen der jeweiligen Backware, die dort eine Rolle spielt. Nach einem Prolog, in welchem die junge Jennifer Quinn ein Rezeptbuch schreibt, beginnt das erste Kapitel mit dem Hinweis, dass sie nicht gedacht hätte, mit siebenundsiebzig Jahren zu einer Berühmtheit zu werden. 

Dieser erste Satz nahm für meinen Geschmack fast schon zu viel vorweg, denn im folgenden begleitete ich Jenny von Beginn an bei ihrer Reise in die Welt des Fernsehens. Zunächst hadert sie mit sich, ob sie es in ihrem Alter wirklich wagen soll, sich für die Show zu bewerben, bis sie zu dem Schluss kommt, dass sie dies gerade wegen ihres Alters und ihrer Erfahrung tun sollte. Danach ging es weiter ins Casting und schließlich in die Show. Die Autorin hat lange selbst im Unterhaltungsfernsehen gearbeitet und ich erlebte die Schilderungen als authentisch. Jenny ist eine absolut liebenswerte Person und ich fieberte schnell mit, wie weit sie in der Shwo kommen wird.

Die meisten Kapitel beginnen mit einem kurzen Rückblick zu der jungen Jennifer Quinn, die große Träume hatte, bis ein Ereignis all diese Pläne zunichte macht und ihr Leben für immer verändert. Ich konnte schnell schließen, was passiert ist, fand die Aufteilung in kleine Erinnerungssequenzen aber gut. So bleibt der Fokus auf den Ereignissen in der Gegenwart, während Jenny es sich selbst nur peu a peu gestattet, an das zurückzudenken, was sie als junge Frau erlebt hat.

Neben Jennys Erlebnissen rund um das Backduell räumt der Roman auch ihrer Beziehung zu Bernard viel Raum ein. Die beiden sind nach all den Jahren unzertrennlich, doch Jenny hat Angst, dass ihre Erwartungen an die verbleibende Zeit andere sind als die von Bernard und ihnen nicht mehr so viele gemeinsame Jahre bleiben. Die beiden haben zusammen keine Kinder bekommen, lieben es jedoch, Zeit mit ihrer Familie in Form von Bernards Nichte, ihrem Mann und deren zwei Kindern zu verbringen. Es gibt liebevolle Szenen im Familienkreis, die einfach Spaß machen.

Der Roman feiert nicht nur das Backen, sondern bietet auch eine schöne Familiengeschichte voll mit herzlichen, aber auch ernsteren Momenten. Für mich ist dieses Buch eine Backshow in Romanform, die bestens unterhält, aber auch etwas Tiefgang bietet. Wer Backen und Lesen liebt, für den führt kein Weg um dieses Buch herum!