In seinem Roman „Das andere Tal“ konfrontiert der gebürtige
Kanadier Scott Alexander Howard den Lesenden mit der faszinierenden Frage, was
geschehen würde, wenn es mehrere parallele, aber zeitversetzte Wirklichkeiten
gäbe. Seine Protagonistin Odile, die in der Ich-Form erzählt, soll sich im
Alter von 16 Jahren für einen Beruf entscheiden. Sie lebt in einer Stadt im Tal
an einem See. Es ist den Bewohnern nicht erlaubt über die Ortsgrenze hinaus
nach Osten oder Westen zu reisen, weil sich jenseits davon identische Städte an
identischen Seen mit ebensolchen Bergen befinden, von denen Odiles Heimat
umgeben ist. Würde Odile in den links- oder rechtsliegenden Ort reisen können,
befände sie sich dort zwanzig Jahre früher beziehungsweise später als zu ihrer
eigenen Gegenwart.
Odiles Mutter drängt ihre Tochter dazu, sich für eine Stelle
beim Conseil zu bewerben, welches darüber bestimmt, wann und für welche Person
eine Ausnahme gemacht wird, damit diese unter Bewachung eines der nebenliegenden
Täler besuchen darf. Der einzig legitime Grund ist die Suche nach Trost im
Trauerfall. Dabei entsteht das Problem, das empfundene Gefühl der Trauernden in
Fakten zu fassen. Anfangs läuft der Aufnahmeprozess beim Rat im Sinne von
Odilie, doch dann sieht sie in der eigenen Stadt Besucher eines anderen Tals,
die sie kennt. Danach kommen ihr immer mehr Fragen in den Sinn, Die ihr wichtigste
ist, ob jemand aus ihrem Freundes- oder Bekanntenkreis bald sterben wird. Damit
beginnt eine interessante Auseinandersetzung über das Für und Wider, in den
Weltlauf einzugreifen und den Ablauf von Geschehnissen zu ändern.
Der Roman gliedert sich in zwei Teile. Der zweite Abschnitt
spielt zwanzig Jahre später als der erste und vertieft das Gedankenspiel
zwischen gestern, heute und morgen. Der Autor hat ausgeprägte Kenntnisse in
Philosophie und füllt das Geschehen durch einige Wendungen mit immer neuen
Fragestellungen an, die er aber nicht immer zur Gänze ausdiskutiert. Harte
Strafen dienen als Abschreckung vor Regelverstößen. Körperliche Züchtigung für
jedes Vergehen ist in der Schule erlaubt. Die Anliegen des Conseils haben
Priorität und sind den eigenen Bedürfnissen unterzuordnen. Das Conseil schürt
Angst in der Bevölkerung unter der Behauptung, dass jede und jeder Gefahr läuft,
sich selbst auszulöschen als mögliche Folge eines Eingriffs in die Ereignisse.
Wachsame Augen sind überall. Eine Selbstverwirklichung ist auf dem engen Raum
der Stadt beschränkt ausführbar. Ob eine Flucht Sinn ergibt, wenn am Ziel die
gleichen Gegebenheiten herrschen?
Scott Alexander Howards Roman „Das andere Tal“ ist ein
kluges Spiel mit der Frage nach den Konsequenzen unserer Handlungen, die
nachdenklich stimmt und weiter nachhallt. Gerne vergebe ich eine
Leseempfehlung.