Rezension von Ingrid Eßer
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Was wäre, wenn alle Frauen sich weigern würden, eine Arbeit,
gleich welcher Art, zu erledigen und sich stattdessen einfach untätig hinlegen?
Dieser Frage geht Mareike Fallwickl in ihrem Roman „Und alle so still“ nach. Der
Titel lehnt sich an das Schweigen der liegenden Frauen an, denn es ist alles
gesagt und es hat kaum etwas bewirkt. Die Arbeit vieler Frauen bleibt
unsichtbar und erfährt daher keine Wertschätzung. Gleiche Bezahlung für alle
Arbeitnehmer(innen) für gleiche Arbeit gibt es oft nicht. Das Schweigen ist aber
auch das Resultat der Müdigkeit, sich immer wieder bewähren zu müssen. Ohne
Worte wirkt der stille Protest wie eine Mauer.
Die Kapitel wechseln in einer personalen Erzählperspektive
zwischen mehreren Protagonist(inn)en. Eine von ihnen ist Elin, 21 Jahre alt und
erfolgreiche Influencerin, die sich aufgrund zahlreicher Hasskommentare zu
ihren Posts in therapeutischer Behandlung befindet. Ihr Körper ist bereits so
oft kommentiert worden, dass sie selbst das Gefühl für ihn verloren hat. Ihre
Mutter, die Leiterin einer Therme, hat sie allein erzogen und ihr die Vielfalt
kulturellen Guts gezeigt, Respekt ohne Wertung, aber auch das klare Formulieren
ihrer Bedürfnisse.
Ein weiterer Protagonist ist der neunzehnjährige Nuri, der
einen deutschen Vater und eine singhalesische Mutter hat. Er hat die Schule
abgebrochen, ohne Kenntnis seiner Eltern. Seitdem hangelt er sich mit
Aushilfsjobs durchs Leben und nimmt häufig körperlich besonders anstrengende, für
Ungelernte aber vergleichsweise gut bezahlteste Arbeitsaufträge an. Die
machomäßige Haltung vieler seiner Geschlechtsgenossen ist für ihn nicht
akzeptabel. Die 55 Jahre alte Ruth dagegen arbeitet über das Maß hinaus als
Pflegekraft im Krankenhaus. Sie erlebt ihre Mutter im Patriarchat des Vaters. Sie
hat sich nie aufgelehnt und ein ausgeprägtes Pflichtgefühl ihren Mitmenschen
gegenüber entwickelt.
Vor allem durch ihre Figuren Nuri und Ruth verweist Mareike
Fallwickl nicht nur auf den allgemeinen zunehmenden Notstand in der Pflege,
sondern auch auf den hohen Anteil bestimmter Personengruppen im
Niedriglohnsektor. Die Beschreibungen der ausgeführten Tätigkeiten sind überaus
realistisch, erschreckend und stimmen nachdenklich. Obwohl es genügend Personen
gibt, die diese Arbeiten veranlassen und, beziehungsweise oder, die
Arbeitsbedingungen kennen, gibt es kaum Verbesserungen irgendeiner Art.
Die drei Protagonist(inn)en treffen während des Aufstands
der Frauen aufeinander. Die Kapitel werden wiederholt unterbrochen von der
ungewöhnlichen Sichtweise einer Pistole, einer Berichterstattung und einer
Gebärmutter, wobei erstere mich von Beginn an beunruhigte. Die Autorin spielt
im Rahmen dieses Zukunftsbilds mit Klischees und überspitzt herausfordernd ihre
Darstellung. Einige Themen sind nur am Rand angesprochen, würden aber ansonsten
den Rahmen des Romans sprengen. Jedoch verdeutlichen sie, wie viel mehr
Ungerechtigkeiten, Vorurteile und Stigmatisierungen noch zu beheben sind. Auch
ich bin der Meinung der Autorin, dass ein gleichberechtigtes Zusammenleben der
Geschlechter dann möglich ist, wenn Männer sich neu orientieren.
Der Roman „Und alle so still“ von Mareike Fallwickl ist so
elektrisierend wie das Cover. Der Autorin ist es gelungen, das relevante Thema
von Ungleichheiten in unserer Gesellschaft so in eine Geschichte zu verpacken,
dass sie die Lesenden aufrüttelt. Hoffentlich erreicht sie ausreichend
Entscheidungsträger unseres Systems, um zu Veränderungen zu führen. Sehr gerne
vergebe ich eine Leseempfehlung und eine Aufforderung zum
Lesen.