Im Roman „Das Fenster zur Welt“ beschreibt Sarah Winman die
Freundschaft zwischen Private (=niedriger militärischer Rang) Ulysses Temper, einem
in Zivil in London lebenden Globenbauer und Evelyn, einer Kunsthistorikerin,
die über 60 Jahre alt ist und ebenfalls aus England stammt. Die beiden begegnen
sich im Jahr 1944 in der Toskana, wo Evelyn darauf wartet, mit alliierten
Kunstschutzoffizieren zusammenzuarbeiten und Ulysses um seine Mithilfe bittet. Wenig
später nimmt er sie mit in einen Weinkeller, wo sie ihm bei Speis und Trank ihr
Wissen um die Schönheit der italienischen Lebensart beschreibt und ihm damit seine
Sicht aufs Leben weitet.
Evelyn und Ulysses gehen später ihre eigenen Wege, jedoch
vergessen sie einander über Jahrzehnte hinweg nie. Die Handlung fokussiert
hauptsächlich auf Ulysses, der im Winter 1946 in seine Heimat zurückkehrt.
Seine Frau Peggy, die er zu ihrer Sicherheit geheiratet hat, bevor er seinen
Kriegsdienst antrat, hat sich inzwischen in einen amerikanischen Soldaten verliebt.
Sie wurde mit ihrer Tochter Alys schwanger, aber der Vater verschwand noch vor
der Geburt.
Bis zu diesem Zeitpunkt lernte ich als Leserin eine Reihe
von eigenwilligen Figuren kennen, die in London auf die Rückkehr von Ulysses
gewartet haben und im Folgenden nicht nur von Bedeutung für die Handlung,
sondern auch für den jungen Globenbauer sind. Als Ulysses wenige Jahre später unerwartet
ein Haus in der Toskana erbt, beschließt er mit Alys und einem besten Freund
nach Italien zu fahren, das Erbe anzutreten und dort zu wohnen. Mit ihnen reist
auch ein Papagei, der durch seine Kommentare immer mal wieder für amüsante
Situationen sorgt.
Es sind große Ereignisse die im Handlungsrahmen des Romans die
Toskana verändern: Weltkrieg und Überschwemmung. Die einfachen Leute leiden am
meisten darunter, weil sie weder die Macht haben, die Dinge zu verändern noch
über ausreichend finanzielle Mittel verfügen, um die Schäden ausbessern zu lassen.
Aber genau diese Personen besitzen oft etwas Unbezahlbares: die Zuneigung von
Freunden, denen sie vertrauen und auf deren Hilfe sie jederzeit setzen können.
Ulysses und seine Mitreisenden finden in der Ferne neue
Freunde. Aber sie wissen, dass sie jederzeit heimkehren können und dort mit
offenen Armen erneut empfangen werden. Freunde bieten ihnen eine helfende Hand,
eine leckere Mahlzeit oder Zeit, um ihnen zuzuhören und genauso halten sie es im
Gegenzug ebenfalls. Sarah Winman zeigt, wie Kunst, Literatur und Kulinarik zu
einem positiven Lebensgefühl führen können. Ihre Figuren sind abwechslungsreich
gestaltet und in der Liebe unabhängig. Einige waren mir von Beginn an
sympathisch, andere weniger. Bei manchen zeigte sich erst mit der Zeit wie
warmherzig sie sind. Sie sind wichtiger als die Handlung, die stellenweise aus
der Beschreibung des Alltags besteht mit wenigen Besonderheiten.
Unterdessen führt Evelyn mit einer Partnerin an ihrer Seite
ihr Leben in England fort. Es entsteht eine unterschwellige Spannung beim Lesen
durch die Frage, ob Ulysses und Evelyn sich je wiedersehen werden.
„Das Fenster zur Welt“ von Sarah Winman zeigt den besonderen Wert von Freundschaften und sorgt mit eigenwillig gestalteten, in ihrer Liebe freien Figuren für ein bewegendes Leseereignis, das ich gerne weiterempfehle.