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Samstag, 17. August 2024

Rezension: Das Wohlbefinden von Ulla Lenze


Das Wohlbefinden
Autorin: Ulla Lenze
Hardcover: 336 Seiten
Erschienen am 17. August 2024

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Die Beelitzer Heilstätten sind im Jahr 1908 eine Art wahrgewordene Utopie: Hier werden tuberkulosekranke Arbeiterinnen und Arbeiter mit aufwändigen Therapien behandelt und mit reichhaltigem Essen wieder zu Kräften gebracht. Eine von ihnen ist Anna, die von den anderen Patientinnen aufgrund ihrer unheimlichen Vorhersagen gemieden wird. Ihre vermeintlichen Fähigkeiten lösen beim behandelnden Arzt Professor Blomberg, der sich wie wachsende Teile der Gesellschaft für okkulte Praktiken interessiert, den Wunsch aus, sie näher zu studieren. Auch die Autorin Johanna Schellmann, von Blomberg eingeladen, um über die Heilstätten zu schreiben, interessiert sich mehr für Anna als für die Einrichtung. Als Vanessa im Jahr 2020 Aufzeichnungen ihren Vorfahrin Johanna aus dem Jahr 1967 in die Hände fallen, ahnt sie bald, dass damals nicht die ganze Wahrheit ans Licht gekommen ist.

Der Roman beginnt im Jahr 2020, in welchem sich Vanessa auf der Suche nach einer neuen Bleibe befindet, da sie ihre Berliner Wohnung aufgrund einer Eigenbedarfskündigung verlassen muss. Als sie einem Makler bei einer Besichtigung in der Nähe der ehemaligen Beelitzer Heilstätten erzählt, dass ihre berühmte Urgroßmutter Johanna Schellmann über diese geschrieben hat, überlässt er ihr kurz darauf bislang unbekannte Texte von ihr. Über deren Ursprung im Jahr 1967 erfuhr ich auf einer zweiten Zeitebene. 

Die dritte Zeitebene, die den Großteil des Romans ausmacht, umfasst den Zeitraum von 1907 bis 1909 und erzählt die Geschichte von Anna und Johanna, beginnend kurz vor ihrer ersten Begegnung. Anna tanzt als Patientin mit ihrem eigensinnigen Verhalten immer wieder aus der Reihe und verstört mit ihren Aussagen die anderen Frauen, findet schließlich aber auch eine von ihr faszinierte Anhängerschaft. Auch Johanna, die als Arztgattin ein priviligiertes Leben führt, aber noch nach dem richtigen Stoff für ihre schriftstellerischen Ambitionen sucht, geht Anna nicht mehr aus dem Kopf. Doch was zwischen den beiden Frauen wirklich vorgegangen ist, im Hinblick darauf unterscheidet sich das allgemein Bekannte von den Aufzeichnungen in Vanessas Besitz. 

Ich war neugierig, der Wahrheit schrittweise auf die Spur zu kommen. Die Einblicke in das Leben in den Heilstätten fand ich faszinierend, der Schauplatz wechselt jedoch schneller, als ich erwartet hätte. Es gibt viele theologische und philosophische Diskussionen, welche tiefe Einblicke in die Debatten der damaligen Zeit geben, dazu Einblicke in Séancen und ähnliche Darbietungen, deren Manipulation ich hautnah miterlebte. Während immer wieder Charaktere versuchen, Anna zu instrumentalisieren, bleibt unklar, wie es um ihre tatsächlichen Fähigkeiten bestellt ist. Für meinen Geschmack zogen sich die Szenen im Jahr 1908 zu sehr in die Länge, während ich die anderen beiden Stränge als relativ kurz und eher als Mittel zum Zweck erlebte, um das Geheimnis, was damals tatsächlich vorgefallen ist, zu lüften. Gerne empfehle ich den Roman an Leserinnen und Leser weiter, die Lust haben, an den Beginn des 20. Jahrhunderts zu Reisen und Einblicke in die damalige Gesellschaft und insbesondere die Beelitzer Heilstätten und das wachsende Interesse am Okkulten zu erhalten.