Montag, 16. September 2024

Rezension: Sobald wir angekommen sind von Micha Lewinsky

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Sobald wir angekommen sind
Autor: Micha Lewinsky
Erscheinungsdatum: 24.07.2024
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Leinen und Schutzumschlag
ISBN: 9783257073157
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Micha Lewinsky legt mit seinem belletristischen Debüt „Sobald wir angekommen sind“ eine Komödie vor, die im Plot die beiden Themen „Flüchten“ und „Getrennte Familie“ zusammenbringt. Das klingt nach tiefsinnigem Hintergrund und ist es auch, wird aber vom Autor auf eine amüsante und charmante Art und Weise dargeboten.

Der Protagonist Ben ist um die fünfzig Jahre alt und Vater von zwei Kindern. Seine Tochter rosa ist im Teenageralter, sein Sohn Moritz sieben Jahre jünger. Mit einer Noch-Ehefrau Marina lebt er das Nestprinzip, während er seit längerer Zeit mit der Künstlerin Julia eine Beziehung eingegangen ist. Der Krieg in Osteuropa beunruhigt ihn. Als es dort eines Tages zu strittigen Einschlägen kommt, kauft Marina spontan Flugtickets. Ben scheint geradezu erleichtert zu sein, dass die von ihm bereits lange in Betracht kommende Flucht, zu der er sich in jüdischer Tradition verpflichtet fühlt, nun endlich beginnt. Es bleibt ihm keine Zeit Julia zu kontaktieren, denn für ihn steht fest, dass die Sicherheit seiner Kinder an erster Stelle steht.

Bens liebster Schriftsteller ist Stefan Zweig. An ihm nimmt er sich ein Beispiel für eine gelungene Flucht und möchte auf seinen Spuren wandeln. Wie sein Vorbild schaut er nicht gerne genauer hin, wenn er sich einmal eine Vorstellung gebildet hat. Das entspricht seiner Erziehung, denn ihm wurde beigebracht, interessant zu sein, nicht interessiert. Eigentlich nimmt Ben sich gerne Vorbilder, jedoch nicht ohne deren Handeln vorher auf die Goldwaage zu legen. Mit Marina war er lange auf einer Welle, bevor die Geburten der Kinder ihre traute Zweisamkeit auf ein neues Niveau brachten. Jetzt bewundert er, wie Julia ihre Karriere vorantreibt. Seine Eltern sind für ihn Respektspersonen. Er ist unentschlossen, wie auch sonst häufig, um seinen erfolgreichen, betuchten Vater um Hilfe zu bitten, weil er eventuelle Konsequenzen fürchtet, ohne genau zu wissen, wie diese aussehen könnten.

Micha Lewinsky lässt seine Hauptfigur einige Erfahrungen sammeln, die Ben sich rückblickend lieber erspart hätte, wodurch der Roman aber sehr abwechslungsreich mit vielen überraschenden Wendungen gestaltet ist. Mit seinem Kinderbuch hatte Ben großen Erfolg gehabt, aber seitdem ist ihm kein großer Wurf mehr gelungen. Ihm ist bewusst, dass ihm der Antrieb fehlt, dennoch gibt es immer noch Personen in seinem Umfeld, die auf ihn bauen und in der Geschichte immer wieder Hoffnung aufkeimen lassen, dass Ben nicht verloren geht. Beim Nachdenken über einen neuen Roman und auch bei der Flucht, ist eine Sehnsucht in ihm zu spüren, jüdisch zu leben. Noch nie hat er sich so intensiv wie aktuell mit seiner Religion auseinandergesetzt.

An verschiedenen Stellen spricht der Autor sehr unterschiedliche kontroverse Sachverhalte wie beispielsweise die Klimakrise, Erziehung und Romantik an. Micha Lewinsky hat seinem Protagonisten den gleichen Beruf wie er selbst ihn ausübt als Schriftsteller und Drehbuchautor gegeben. Die Darstellung der Karriere seines Protagonisten mit Höhen und Tiefen, immer auf Erfolg hoffend und doch einem Misslingen ständig nah, ist realistisch und nachvollziehbar.

Der Roman „Sobald wir angekommen sind“ von Micha Lewinsky zeigt mit seiner Hauptfigur, wie eine angespannte Weltlage zu Verunsicherung führen kann. Mit amüsantem Unterton beschreibt er, wie der Autor und Schriftsteller Ben durchs Leben taumelt, bis er einige Erkenntnisse durch seine Flucht gewinnt, die sein Selbstvertrauen stärken. Gerne vergebe ich eine Leseempfehlung.

Mittwoch, 11. September 2024

Rezension: Tee für die Geister von Chris Vuklisevic


Tee für die Geister
Autor: Chris Vuklisevic
Übersetzerin: Maria Hoffmann-Dartevelle
Hardcover: 464 Seiten
Erschienen am 11. September 2024

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Die in Nizza lebende Félicité ist als Geisterschleuserin tätig: Im Auftrag ihrer Klienten macht sie Geister ausfindig, die vor der Beendigung eines Satzes gestorben sind. Mit ihrem besonderen Tee, den auch Geister trinken können, bringt sie diese zum Reden und hilft ihnen hinüber. Sie stammt aus einem abgelegenen Bergdorf, in das sie gelegentlich zurückkehrt, um ihre Mutter zu besuchen. Diese ist die einzige verbleibende Bewohnerin des Dorfes und doch meist nicht anzutreffen, denn seit vielen Jahren teilt sie sich ihren Körper mit über fünfzig anderen Persönlichkeiten. In einem verzweifelten Versuch, sie zum Reden zu bringen, geht Félicité unabsichtlich zu weit – kurz stirbt ihre Mutter einen gewaltsamen Tod. Félicité will mehr über die Umstände herausfinden und informiert außerdem ihre Zwillingsschwester, zu der sie seit dreißig Jahren keinen Kontakt mehr hatte. Diese führt ein Hexenleben tief im Wald, nachdem sie ihr Leben lang nur Ablehnung erfahren hat. Denn bei jedem Wort entschlüpft ihrem Mund ein Schmetterling, der Zerfall bringt, und ihre Wutanfälle bringen ungeahnte Zerstörung. 

Zu Beginn des Romans wurde ich von einem Erzähler angesprochen, der sich selbst nicht vorstellt. Er kündigte an, mir die Geschichte von zwei Schwestern zu erzählen, die Geister jagen und die mit den seltsamen Ereignissen im Bergdorf Bégoumas in Verbindung stehen, dessen Bewohner es im Jahr 1956 innerhalb eines Tages verlassen haben. Schnell wurde klar, dass mich eine rätselhafte Geschichte voller Mysterien erwartet. Die Erzählung springt in der Zeit hin und her, sodass ich parallel zu den Ereignissen rund um den Tod der Mutter von Félicité und ihrer Schwester auch mehr über die Geburt und das Aufwachsen der Zwillinge erfuhr. Diese Puzzlestücke fügen sich langsam zusammen, sodass sich das Bild einer komplexen Familiendynamik ergibt, in welcher es noch mehr außergewöhnliche Umstände gibt als zunächst gedacht.

Ich habe mich gerne auf diesen literarisch-magischen Roman eingelassen. Félicité und ihre Schwester sind Licht und Schatten. Während Félicité stets gefördert wurde und zahlreiche Klienten hat, für die sie Geister mit ihrem Tee zum sprechen bringt, ist ihre Schwester von Beginn an eine Ausgestoßene. Ihre Beziehung war und ist kompliziert und ich konnte gut nachvollziehen, dass Félicité auf der einen Seite die Nähe zu ihrem Zwilling sucht und zum anderen von deren Fähigkeiten abgestoßen wird. Ihre Schwester ist jedoch nicht die böse Hexe, die manch einer in ihr sehen will, sondern vielmehr ein tragischer Charakter, der stets Ablehnung erfahren hat. 

Auf ihrer gemeinsamen Reise erhalten die beiden die Chance, ihre Schwesternbeziehung neu zu definieren und gleichzeitig mehr über die Vergangenheit ihrer Mutter und deren Familie herauszufinden. Hier wartet so manche Überraschung, die oftmals nicht von dieser Welt scheint. Gelegentlich war mir die Geschichte etwas zu verworren. Insgesamt wurde mir ein ungewöhnlicher Familienroman mit fantastischen Elementen geboten, der ein Leseerlebnis der anderen Art bietet. Wer Lust hat, sich darauf einzulassen, der wird mit einer berührenden Geschichte voller Überraschungen belohnt, in der es so einiges zu erkunden und aufzudecken gibt.

Mittwoch, 4. September 2024

Rezension: Agency for Scandal von Laura Wood

 

Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Agency for Scandal
Autorin: Laura Wood
Übersetzerin: Petra Koob-Pawis
Erscheinungsdatum: 28.08.2024
Verlag: Fischer Sauerländer (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Klappenbroschur mit Deko-Umschlag der Erstauflage
ISBN: 9783737343893

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Die Handlung des Romans „Agency for Scandal“ von Laura Wood ist im viktorianischen England angesiedelt, in einer Zeit, zu der arrangierte Ehen keine Seltenheit sind und Angehörige des Adels darauf bedacht, nicht unter Stand zu heiraten. Einerseits sichern sie dadurch ihren Lebensstandard, andererseits bewahren sie dabei ihr Ansehen in der High Society.

Die 18-jährige Izzy Stanhope ist die Tochter eines niederen Barons, der vor zwei Jahren verstorben ist. Sein Tod hat ihr offenbart, dass die Familie verarmt ist, aber Izzy versucht, diese Tatsache vor ihrer kranken Mutter und ihrem jüngeren Bruder zu verbergen. Es ist nicht leicht für sie, jeden Monat die von ihrer Familie benötigten finanziellen Mittel zu besorgen. Einen geliebten und betuchten Mann zu heiraten, hält sie fast für unmöglich, weil sie weiß, dass sie keine „gute Partie“ ist.

Das Hobby von Izzys Vater war es, Schlösser zu knacken. Er hat ihr viele Tricks gezeigt. Ihr Können führt dazu, dass sie von der „Agency for Scandal“ angeworben wird. Die Detektei beschäftigt ausschließlich Frauen, die sich für benachteiligte Personen ihres Geschlechts der höheren Gesellschaftsschicht einsetzt und Diebstahl, Untreue, aber auch Mordfälle aufzuklären. Izzy gehört zu einem Team. Sie weiß sich geschätzt und fühlt sich wohl dabei, für Gutes einzutreten, wobei sie moralischen Überlegungen zur Seite schiebt. Als sie jedoch dabei helfen soll, das Geheimnis einer Brosche aufzuklären, sieht sie ausgerechnet den seit langem von ihr geschätzten und heimlich bewunderten Duke in die Ereignisse verwickelt.

Laura Wood findet einen Weg Romantik und Spannung auf perfekte Weise zu kombinieren. Die Geschichte wird von Izzy in der Ich-Form erzählt. Am Beginn schildert sie ihre missliche Lage und gewann meine Sympathie. Sie ist selbstbewusst und äußerst clever dabei, ihre zahlreichen Geheimnisse vor anderen zu verbergen. Aber sie hat auch oft genug Angst davor, bis hin zur Panik, dass ihr Schreckliches widerfährt, was die unterschwellige Spannung im Buch steigerte. Interessant fand ich es, dass die Autorin die Mitarbeiterinnen der Agentur mit Ecken und Kanten schildert und die Figuren nicht immer nur in Harmonie zusammenarbeiten.

Neben den Ermittlungen bindet die Autorin eine verträumte und verspielte Liebe der Protagonistin ein. Das Geplänkel von Izzy und dem von ihr Angeschmachteten bringt manche amüsante Situation. Anders als bei der im Buch erwähnten Schriftstellerin Emily Bronte wählt Laura Wood eine moderne Sprache mit der sie die Atmosphäre der damaligen Zeit realistisch wiedergibt. Die Beschreibungen von Mode, Ausstattung der Räumlichkeiten sowie kulturelle und politische Gegebenheiten lassen beim Lesen einen passenden Rahmen für die Handlung im Kopf entstehen.

Mit ihrem Genremix „Agency for Scandal“ verbindet Laura Wood spannende Ereignisse in einem vielschichtigen Ermittlungsfall mit einer Liebesgeschichte zum Dahinschmelzen. Sie hat beste Unterhaltung mit humorvollen Szenen für alle ab 13 Jahren geschrieben, die es lieben, in die vergangene Zeit der 1890er Jahre einzutauchen, Mit Izzy Stanhope agiert eine auf ihre Unabhängigkeit bedachte Frau in der damals ungewöhnlichen Welt einer weiblichen Agentur, die Skandale der höheren Gesellschaftsschicht aufklärt und dabei manchmal auch förmlich über Leichen geht. Sehr gerne vergebe ich eine Leseempfehlung.


Dienstag, 3. September 2024

Rezension: Zwei in einem Leben von David Nicholls


Zwei in einem Leben
Autor: David Nicholls
Übersetzerinnen: Simone Jakob und Anne-Marie Wachs
Hardcover: 448 Seiten
Erschienen am 28. August 2024
Verlag: FISCHER Krüger
Link zur Buchseite des Verlags

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Marnie ist achtunddreißig Jahre alt und arbeitet als Lektorin in London. Die Scheidung von Neal ist schon einige Jahre her. Da sie ihren Job aus dem Homeoffice erledigt, hat sie nicht viele Sozialkontakte. Am Neujahrstag nimmt sie sich vor, wieder mehr unter Menschen zu kommen, und stimmt daher dem Vorschlag ihrer Freundin Cleo zu, sie drei Tage auf einer Wanderung  im Norden Englands zu begleiten. Mit dabei sind außer Cleo und ihrem Sohn Anthony noch Conrad und Michael. Letzterer ist Erdkundelehrer und steckt mitten in einer Scheidung. Er hat sich vorgenommen, das Land von der Irischen See bis zur Nordsee zu durchqueren und gibt sich dabei in der Gruppe wenig gesellig. Doch dann steigt der Rest der Gruppe am zweiten Tag wegen des schlechten Wetters aus, und Marnie und Michael sind plötzlich allein unterwegs. Die beiden kommen ins Gespräch und merken allmählich, dass sie vielleicht doch auf einer Wellenlänge sind.

Der Roman ist abwechselnd aus der Sicht von Marnie und Michael geschrieben, die sich über ihre gemeinsame Freundin Cleo beim Wandern kennenlernen. Während Marnie den Großteil ihrer Zeit in ihrer Londoner Wohnung verbringt, liebt Michael das Wandern und die Natur. Eher widerwillig hat er zugestimmt, dass er bei seiner Wanderung begleitet wird, und belächelt die nagelneue Funktionskleidung und die viel zu voll gepackten Rücksäcke der anderen. Er freut sich schon darauf, nach drei Tagen allein weiterzuwandern. Ich konnte mich gut in die beiden und ihre unterschiedlichen Erwartungen im Hinblick auf die Wanderung hineinversetzen.

Natürlich ist es vorhersehbar, dass es nicht bei dem ursprünglichen Plan bleibt. Marnie und Michael sind schon bald allein unterwegs. Da die beiden nicht erwarten, dass es zwischen ihnen funken könnte, gehen sie zunehmend offen und unbefangen miteinander um. Ich habe sie gerne auf ihrem Weg begleitet. Die Wanderung bietet einige unterhaltsame und auch herausfordernde Situationen, denen sie sich stellen müssen. Als Leserin war mir schnell klar, dass die beiden einander gut tun und ich hoffte mit, dass sie ebenfalls zu dieser Erkenntnis gelangen. David Nicholls bietet ein unaufgeregtes und gleichzeitig berührendes Leseerlebnis. Zum Ende hin gibt es eine unerwartete Wendung, nach welcher das Buch für meinen Geschmack etwas zu schnell zum Abschluss kommt und das weitere Schicksal der Charaktere der Fantasie der Leser:innen überlässt. Insgesamt habe ich diesen emotionalen und kurzweiligen Roman sehr gern gelesen und mit Marnie und Michael die Wanderwege Nordenglands und die Frage, was das Leben noch für sie bereithalten könnte, erkundet.


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