Autorin: Susanne Gregor
Erscheinungsdatum: 28.01.2025
Verlag: Zsolnay (Link zur Buchseite des Verlags)
ISBN: 9783552075665
Zwei Frauen befinden sich auf einer Wanderung. An einer steilen
Böschung stürzt eine von ihnen ab und verstirbt im Krankenwagen. So beginnt der
Roman „Halbe Leben“ von Susanne Gregor. Der Anfang lässt eine hintergründige
Spannung aufkommen. Als Leserin fragte ich mich, ob ein Motiv für ein
Verbrechen vorliegt, ob es ein Unfall war oder die Tote den Schritt in den
Abgrund bewusst gesetzt hat.
Eine der beiden Frauen auf der Wanderung ist die in
Österreich im Kremstal lebende Klara. Sie ist von Beruf Architektin, verheiratet
und hat eine elfjährige Tochter. Ihre Mutter Irene bewohnt nach einem
Schlaganfall eine Einliegerwohnung im ersten Stock ihres Hauses. Weil Klara mit
der Betreuung überfordert ist, beschließt sie sich an eine Agentur zu wenden,
die ihr die Pflegerin Paulina und den Pfleger Radek vermittelt. Im ständigen Wechsel
von vierzehn Tagen kümmern die beiden sich fortan um Irene.
Paulina war ebenfalls bei dem Wanderausflug dabei. Sie ist gelernte
Krankenschwester, geschieden und lebt mit ihren zwei Söhnen in Slowenien. Mit
ihrer Arbeit im Nachbarland kann sie mehr verdienen als auf einer
Krankenstation in der Heimat. Ihre Schwiegermutter kümmert sich um die Jungen,
während sie ihrem Beruf nachgeht. Im Laufe der Zeit merkt sie, dass ihre
„halben Leben“ gemeinsam kein ganzes mehr ergeben.
Die Pflege von Irene durch Paulina erscheint zunächst als
eine gute Lösung für beide Frauen. Die Slowenin ist bei Klaras Familie
beliebter als Radek, weil sie in größerem Maße auf Irenes Wünsche eingeht.
Nachdem Klara durch die Unterstützung deutlich entlastet wird, kann sie sich
beruflich wieder mehr engagieren. Gelegentlich bitten sie und ihr Mann die
Pflegerin um eine zusätzliche Gefälligkeit und entgelten sie dafür gut.
Paulina kommt der Bitte ihrer Arbeitgeberin um eine weitere
Hilfeleistung scheinbar willig entgegen. Es kostet sie aber wertvolle Zeit, die
sie nicht mit ihren Kindern verbringen kann. Um ihr Problem zu kommunizieren,
fehlen ihr die Worte. Klara hingegen besitzt nicht genügend Einfühlungsvermögen,
sich in die Gefühlswelt der Pflegekraft einzudenken. Sie erahnt nicht den
Bedarf der Söhne Paulinas an Zuwendung durch ihre Mutter, obwohl sie doch
selbst eine Tochter hat.
Weder Klaras Mann, der über genügend Freiräume verfügt, noch
Paulinas geschiedener Mann bieten der Slowenin Unterstützung dabei, ihrer
Tätigkeit als Pflegerin nachzukommen. Sowohl Klara wie auch Paulina können auf
ihre je eigene Weise nicht die Anerkennung finden, die sie gerne hätten. Ungesagte
Worte und der innere Zwiespalt beider Frauen führen zu einer zunehmend gereizten
Stimmung in deren Umfeld. Bis in die Nebenfiguren hinein sind die handelnden
Personen gut ausgearbeitet.
Im Roman „Halbe Leben“ thematisiert Susanne Gregor das Thema der Care-Arbeit. Sie nimmt sich speziell der Situation von ausländischen Pflegekräften an, die jeweils für einen gewissen Zeitraum beim Betreuungsbedürftigen wohnen. Ihre Geschichte überzeugt durch eine realitätsnahe Darstellung, stimmt nachdenklich und bleibt im Gedächtnis. Sehr gerne vergebe ich für diese bewegende Erzählung eine klare Leseempfehlung.